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Gesundheit: Hirnforschung: Stützen des Geistes

Wenn man von einer "Stütze des Geschäfts" spricht, dann heißt das nicht unbedingt, dass der betreffende Mitarbeiter seine Arbeitszeit damit verbringt, wie eine Säule dazustehen und die Zimmerdecke zu halten. Eine ähnliche Bedeutungserweiterung erfährt eine Zellenart im Hirn, die man lange degradiert hat - die Gliazellen.

Wenn man von einer "Stütze des Geschäfts" spricht, dann heißt das nicht unbedingt, dass der betreffende Mitarbeiter seine Arbeitszeit damit verbringt, wie eine Säule dazustehen und die Zimmerdecke zu halten. Eine ähnliche Bedeutungserweiterung erfährt eine Zellenart im Hirn, die man lange degradiert hat - die Gliazellen.

Glia ist dem Griechischen entnommen und heißt Klebstoff. Rudolf Virchow, der berühmte Berliner Pathologe, gab den Hirnzellen Mitte des 19. Jahrhunderts diesen abschätzigen Namen. Er nahm an, Gliazellen seien nur dazu da, die Nervenzellen - die eigentlichen Herren des Hirns - zusammenzuhalten, zu stützen und zu unterstützen.

Wie es nun scheint, brauchen die lang vernachlässigten Zellen einen anderen Namen. "Endlich bekommen Gliazellen die Aufmerksamkeit, die sie verdienen", sagt Maiken Nedergaard, Neurophysiologin am New York Medical College in Valhalla im US-Staat New York. Zusammen mit ihren Kollegen gerät die Forscherin immer mehr zur Auffassung, dass Gliazellen - kurz: Glia - weit mehr können als nur kleben. Sie könnten sogar Einfluss nehmen "auf unsere Wahrnehmung, unser Gedächtnis, unser Denken", wie Nedergaard spekuliert.

Bislang waren es die Nervenzellen (Neuronen), die im Hirn das Exklusivrecht auf Informationsverarbeitung hatten. Ihre elektrischen Impulse galten als das einzige Korrelat des Geistes. Den Gliazellen schrieb man allenfalls zu, dass sie die Neuronen mit Substanzen versorgen, die diese fürs Denken brauchen.

Der Grund für die chronische Unterschätzung liegt in der Technik, mit der man seit Jahrzehnten versucht, den physiologischen Geheimnissen des Gehirns auf die Schliche zu kommen. Dabei werden insbesondere die elektrischen Signale der Nervenzellen beobachtet. Glia aber generieren keine elektrischen Impulse. Deshalb also, so der voreilige Schluss, sind sie auch nicht an der Informationsverarbeitung beteiligt.

Gliazellen aber kommunizieren sehr wohl - nicht elektrisch, aber chemisch. Und genau über diesen Weg, so zeigt sich jetzt, treten sie mit den Nervenzellen in Kontakt. Denn auch die Nervenzellen kommunizieren nicht nur elektrisch. Sobald der elektrische Impuls das Ende einer Nervenzelle erreicht - die Synapse -, werden chemische Substanzen ausgeschüttet, die an das nachgeschaltete Neuron docken - ein Vorgang, der bei der nachgeschalteten Zelle wiederum zu einem elektrischen Signal führen kann (siehe weitere Artikel unten).

Elektrische Impulse, chemische Signale - was bedeutet das überhaupt? Hirnforscher glauben, dass diese Kommunikation nichts anderes ist, als das, was wir "Seele" oder "Geist" nennen. "Geist ist das, was Gehirne tun", sagt Marvin Minsky, der "Papst" der Künstlichen Intelligenz am Massachusetts Institute of Technology (MIT) im amerikanischen Cambridge. Jetzt könnte man genauer übersetzen: Unsere Seele ist das, was Nerven- und Gliazellen tun.

Ende der 80er Jahre kam die Gliaforschung in Schwung. Damals konnte man zum ersten Mal zeigen, dass Gliazellen an ihren Oberflächen Rezeptoren für Neurotransmitter besitzen. Neurotransmitter - so nennt man den Stoff, den die Nervenzelle ausschüttet, um damit die nachgeschaltete Nervenzelle zu aktivieren. Offenbar können Neurotransmitter aber nicht nur Nerven-, sondern auch Gliazellen aktivieren.

Anfang der 90er Jahre entdeckte man, dass der Neurotransmitter Glutamat Kanäle in der Membran von Gliazellen öffnet, die Kalziumionen transportieren. Die Folge: Kalziumionen fließen in die Gliazelle. Damals beobachtete man noch etwas Bemerkenswertes: Die erhöhte Kalziumkonzentration in einer Gliazelle führt ihrerseits dazu, dass auch bei benachbarten Gliazellen die Konzentration an Kalzium steigt - Gliazellen kommunizieren offenbar auch untereinander.

Schließlich fanden Nedergaard und andere den letzten, entscheidenden Mosaikstein: Der Kalziumanstieg in Gliazellen beeinflusst nicht nur andere Gliazellen, sondern auch benachbarte Neuronen - auch in diesen Nervenzellen steigt die Kalziumkonzentration. Glia sind also nicht nur die Empfänger von Signalen, die ihnen die Neuronen schicken - sie können die Botschaft auch beantworten.

Hirnforscher rätseln jetzt darüber, was diese Kommunikation des Gehirns für den Geist bedeuten könnte. Im menschlichen Hirn gibt es zehnmal mehr Glia- als Nervenzellen. In Nagetieren ist dieses Verhältnis eins zu eins. Und bei Tieren, die noch simpler gestrickt sind, kehrt sich das Verhältnis sogar um (der Fadenwurm besitzt sechsmal mehr Neuronen als Gliazellen). Je ausgeprägter die kognitiven Fähigkeiten, desto höher der Anteil von Gliazellen. "Das macht es natürlich verlockend, anzunehmen, dass die Glia in hohem Maße an unseren kognitiven Leistungen beteiligt sind", sagt Nedergaard. "Vielleicht ist unsere Persönlichkeit zum Teil in Gliazellen angelegt."

Glia und Geist - noch weiß keiner, an welchen Prozessen der Seele die Gliazellen beteiligt sind. Allerdings weiß man, dass ihre Kommunikation sehr langsam ist. Die elektrischen Signale der Nervenzellen schaffen es auf bis zu zehn Meter pro Sekunde - eine Million mal schneller als die Kalziumkommunikation der Gliazellen.

Rasche Informationsverarbeitung - für gewisse Aufgaben unseres Hirns ist das unerlässlich, für Reflexe, für Bewegungen, auch bei der Wahrnehmung ist oft Schnelligkeit gefragt. Aber was ist mit dem Gedächtnis? Mit unseren Stimmungen? Wo die Geschwindigkeit in den Hintergrund tritt, könnten die Gliazellen in den Vordergrund treten. Beispiel Gedächtnis. "Wir wissen, dass Gliazellen Gedächtnisneuronen beeinflussen können", sagt Nedergaard. "Aber wie sie an unserem Gedächtnis beteiligt sind - das wissen wir nicht."

Eines aber ist heute schon sicher: Gliazellen sind mehr als bloße Stützzellen im Wortsinne. Vermutlich sind sie eine wahre Stütze des Geistes.

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