zum Hauptinhalt

Gesundheit: Hochzeitstanz der Glibbertiere

Quallen haben anonymen Sex und sind beim Baden gefürchtet. Dabei sind die Wasserwesen nur selten gefährlich

Für die meisten Menschen sind Quallen bestenfalls unscheinbar glibberige Strandfunde, schlimmstenfalls nesselnde Störenfriede, die Badefreuden trüben. Doch wer diese Wasserwesen wie aus einer anderen Welt keines weiteren Blickes würdigt, tut einem ganzen Tierstamm unrecht, der seit den Anfängen höheren Lebens im Meer dabei gewesen sein dürfte. Fossil überlieferte Spuren von Quallen finden sich in mehr als 600 Millionen Jahre alten, feinsten Sedimentablagerungen.

Für den Naturforscher Ernst Haeckel (1834-1919) waren Quallen die unangefochtenen Stars im Tierreich. „Denkt Euch einen zierlichen, schlanken Blumenstock, dessen Blätter und bunte Blüten durchsichtig wie Glas sind und der sich in den zierlichsten und lebhaftesten Bewegungen durch das Wasser schlängelt“, schreibt er. Tatsächlich sind diese fragilen und filigranen Meeresbewohner „Kunstformen der Natur“ schlechthin. Ihre natürliche Schönheit und Eleganz ist unübertroffen. In seinem gleichnamigen Werk schuf Haeckel ihnen mit liebevollen Aquarellen ein ästhetisches Vermächtnis in Farbe. Sein Wohnhaus in Jena, das zugleich Arbeitsstätte und Museum war, nannte er „Villa Medusa“.

Heute führen Quallen – auch Nesseltiere genannt – selbst bei Meeresforschern und Zoologen eher ein Schattendasein, obgleich sich diese Tiere dank moderner Tauchtechnik in freier Natur viel problemloser beobachten lassen als vom Altmeister der Medusenforschung. Ein Jahrhundert nach Haeckel hat der Kieler Meeresbiologe Thomas Heeger mit seinem durch schöne Farbfotos illustrierten Werk „Quallen – gefährliche Schönheiten“ diesen oft verkannten Meerestieren einen Prachtband gewidmet. Auch für Heeger sind Quallen mehr als nur glibberig-glasige Glockenträger; vielmehr sieht er in ihnen eine der schönsten, vielgestaltigsten und immer noch geheimnisumwitterten Tiergruppen.

Tatsächlich haben auch Quallen „sex & crime“ zu bieten. Ihr Lebenszyklus besteht aus einem einzigen Verkleidungsspiel, und bei der Fortpflanzung stehen sie überwiegend auf anonymen Sex. Auf höchst eigenartige Weise verwandeln sich Quallen im Laufe ihres Geschlechtslebens vom Polypen zur freischwimmenden Meduse. Deshalb haben Zoologen anfangs in einigen Fällen nicht erkannt, dass es sich um ein und dieselbe Tierart in unterschiedlichen Lebensphasen handelt. Nur die Medusen haben Sex, während sich Polypen ungeschlechtlich durch Knospung vermehren. Allerdings verläuft der Paarungsakt der meisten Medusen wenig spektakulär, indem Männchen und Weibchen Samen und Eier ins Meer abgeben, wo die Befruchtung stattfindet.

Als höchst obszöne, weil ungewöhnliche Sexpraktik unter Nesseltieren muss da gelten, was sich bei der Würfelqualle Tripedalia cystophora geradezu euphorisch als „Hochzeitstanz“ bezeichnen lässt. Dabei kommen sich nicht nur die Paarungspartner näher; die Männchen haben sich insofern etwas Besonderes einfallen lassen, als sie ihren Samen in klebrig-gallertige Spermacontainer verpacken. Sobald sie ein paarungsbereites Weibchen gefunden haben, schwimmen sie längsseits und entern es gleichsam mit den Tentakeln.

Derart verhakt kommt es beim Quallen-Mann zu rhythmischen Bewegungen, mit denen er seine Samenpakete per Mundrohr an die Tentakeln seiner Partnerin heftet. Das war’s aber auch schon: Er löst sich und schwimmt davon. Die derart beglückte Quallen-Dame verleibt sich seine Liebesgabe in den Gastralraum ein, packt die Samenpakete aus und lässt sich ihre Eier von den freigesetzten Spermien befruchten. Zeugnis dieses Aktes sind Planula-Larven, die bereits nach zwei bis drei Tagen schlüpfen und sich auf die Suche nach einem Plätzchen am Meeresboden machen, wo sie gleichsam heimisch werden.

Was ihnen an aufregendem Sexleben fehlt, machen Quallen indes durch biologische Vielfalt wett. Mit schätzungsweise 9000 Arten (das sind immerhin beinahe so viele wie es jeweils Vogel- und Reptilienarten auf der Erde gibt) besiedeln Nesseltiere überwiegend das Meer, wo sie weltweit verbreitet von kalten arktischen Gewässern bis in die Tropen vorkommen. Sogar das Süßwasser haben einige von ihnen erobert. Der fulminanten Formenvielfalt, die zwischen nur millimetergroßen Winzlingen und bis zu drei Meter großen Schirmquallen alle Nuancen kennt, liegt ein denkbar simpler Bauplan zugrunde.

Der Quallenkörper ist aus nur zwei Zellschichten aufgebaut, die einen sackartigen Hohlraum umschließen; der Mund ist gleichzeitig After, während andere Organe fehlen. Noch dazu bestehen Quallen zu etwa 98 Prozent aus Wasser; nur gallertiges Bindegewebe verleiht ihnen einigermaßen Form und sorgt für einen mehr oder weniger stabilen Glocken- und Schwimmschirm, an dem die nesselnden Tentakeln hängen. Entsprechend begrenzt sind auch die Schwimmkünste der Quallen: Sie treiben mehr, als dass sie aktiv schwimmen. Das Meer bestimmt auch in dieser Hinsicht über ihr Leben und Strömungen geben ihren die Richtung vor.

Allerdings können die so harmlos wirkenden Meerestiere tatsächlich den Tod bringen. Dies trifft jedoch nur höchst ausnahmsweise einmal Menschen, meistens aber die Mahlzeiten der Quallen. So simpel der glibberige Körperbau der Quallentiere ist, so ausgeklügelt wirkt ihre eigentliche Spezialität als Nesseltiere. In ihren Fangtentakeln sitzt eine geniale Giftwaffen-Konstruktion – ausgestattet mit Schleudermechanismus, Stilett und giftgetränkter Peitsche. Zu Tausenden sind diese Geschosse dicht an dicht in den Fangarmen aufgereiht; bereit, in Bruchteilen von Sekunden zu explodieren und ein tödliches Gift zu injizieren.

Denn Quallen leben räuberisch. Ihre Beute sind Fische, Kleinkrebse und was das Meer sonst so an ihre Fangtentakeln treibt. Dank dieser universellen Speisekarte vermögen sie auch schnell auf ein wechselndes Nahrungsangebot zu reagieren, weshalb Biologen ihnen eine wichtige Regulativfunktion im Meer zuschreiben. Selbst haben Quallen kaum spezielle Feinde, von Meeresschildkröten und Makrelen abgesehen, die die gallertigen Tiere offenbar zum Fressen gern haben. Allerdings stellen kleinere Quallen zusammen mit anderen zoologischen Winzlingen die Hauptmasse des tierischen Planktons im Meer, das sich Bartenwale und Walhaie regelmäßig einverleiben.

Der räuberischen Lebensweise ihrer Stammesverwandten gänzlich abgeschworen hat dagegen eine Quallenart des Pazifischen Ozeans. Auf den Palau-Inseln kann man das eigenartige Verhalten der Wurzelmundqualle Mastigias beobachten, der Tentakeln nebst Nesselzellen fehlen. Sie haben sich vom umherdriftenden Jäger gleichsam zum halbsesshaften Farmer gewandelt. Statt der Giftkapseln kultiviert diese Qualle in ihrem Gewebe Millionen einzelliger Algen, die ähnlich wie Landpflanzen Stoffwechselenergie aus Sonnenlicht beziehen.

In geschützten Stillwasser-Bereichen zwischen den Koralleninseln des Palau-Archipels folgen die Wurzelmundquallen daher wie sonnenhungrige Strandurlauber dem Sonnengang, um „ihre“ Algen möglichst lange bescheinen zu lassen. Je mehr Sonne die Algen tanken, desto besser sind diese versorgt – und desto besser geht es den von ihnen lebenden Quallen. Weil die Algen aber neben viel Licht auch Stickstoff benötigen, als Dünger für ihren Kreislauf, tauchen die Quallen in regelmäßigen Abständen in tiefere, sauerstofflose Wasserschichten. Dort bauen Bakterien totes organisches Material ab und setzen dabei dringend benötigten Stickstoff frei. Mit diesem wie fürsorglich erscheinenden Wanderverhalten verhilft Mastigias den als Untermieter angesiedelten Algen gewissermaßen zu einer ausgewogenen Ernährung und Versorgung – und diese dann ihrerseits zum Wohlergehen der Nesseltiere.

Dem Menschen gefährlich werden können nur wenige Quallen. Da ist – neben der Australischen Seewespe, derentwegen in Australien oft ganze Strände geräumt werden – vor allem die Portugiesische Galeere Physalia physalis, die nach Stürmen gleich massenhaft an tropische Strände gespült wird. Diese zu den Staatsquallen (s. Kasten) zählenden Wesen sind keine Einzelgänger; vielmehr handelt es sich um eine freischwimmende Tierkolonie aus vielen Nesseltier-Polypen, die sich nicht mehr voneinander trennen.

Ähnlich wie in einem Bienenstock praktizieren die Koloniemitglieder perfekte Arbeitsteilung, wobei viele dieser Tiere für Beutefang, Feindabwehr oder die Fortbewegung zuständig sind, während die Vermehrung allein Sache einiger weniger spezialisierter Geschlechtspolypen ist. Die Nesselzellen der Physalia produzieren ein Gift, das massenhaft injiziert auch beim Menschen zu toxischem Schock und Lähmung führen kann. Geraten Badende in die meterlangen Tentakeln, kann dies selbst für gute Schwimmer tödlich enden.

Matthias Glaubrecht

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false