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Gesundheit: Islamwissenschaften: Die Poesie des Korans

Wer meint, dass die Muslime allein aus religiösen Motiven zum Buche greifen, irrt. Die Faszination des Korans erklärt sich zu großen Teilen aus seiner ästhetischen Qualität.

Wer meint, dass die Muslime allein aus religiösen Motiven zum Buche greifen, irrt. Die Faszination des Korans erklärt sich zu großen Teilen aus seiner ästhetischen Qualität. Anders gesagt: "Gott ist schön". So heißt ein Buch des Kölner Islamwissenschaftlers Navid Kermani, der jetzt im Potsdamer Einstein-Forum sprach.

Gott ist schön? Ist das nicht eine ketzerische Behauptung? Ganz im Gegenteil, meint Kermani. Ohne Berücksichtigung der spezifischen Ästhetik sei der Koran überhaupt nicht zu verstehen - geschweige denn seine Wirkung. Das ästhetische Erleben gehöre untrennbar zum Glauben. In der Rezeptionsgeschichte seien unzählige Berichte im Umlauf, die von der geradzu überwältigenden Wirkung gesprochener Koran-Verse erzählen. Es sei ein wiederkehrendes Motiv, dass Menschen beim Hören eines Koranverses, dem "Zauberklang", sich spontan bekehren, weinen, schreien, in Ohnmacht fallen oder in Ekstase geraten - manchmal sogar sterben. Und die Gegner Mohammeds hätten sich die Ohren verstopft, um nicht seiner Macht zu erliegen. "Der Klang des Korans ist der Grund für seine schnelle Ausbreitung", sagte Kermani.

Während die Bibel eher zu den Lese-Büchern zählt, ist der Koran zum Hören gemacht. "Die Sprünge, der rasche Wechsel der Erzählebenen, die vielen Exkurse, dazu eine oft rätselhafte Metaphorik - all dies wirkt auf den Leser verwirrend", so Kermani. Ein lineares Durchlesen von vorne bis hinten sei gar nicht möglich. Erst in der Koranrezitation entfalte sich die Kraft und Schönheit des Textes. So machten beispielsweise die ständigen Wiederholungen einzelner Verszeilen, die beim Lesen ermüdend wirken würden, im Vortrag gerade den Reiz aus. Auch im Koran selbst (übersetzt: "das Vorzutragende") wird immer wieder der rezitative Charakter der Schrift betont. "Der Koran braucht den Vortrag", so Kermani. Die Ästhetik des Korans hat somit ihre Entsprechung im Abendland nicht in der Bibel, sondern in der Poesie und Musik. Aber auch aus theologischen Gründen ist der Koran ein Hör-Text. "Der Koran beansprucht, die direkte Rede Gottes zu sein." Es handle sich nicht um ein Buch über Gott, Gott werde vielmehr im Vortrag präsent. Die Schönheit des Korans gilt bis in die heutige Zeit hinein für die Muslime als Wunder, denn etwas so Vollkommenes könne nicht von einem Menschen geschaffen worden sein. "Die Vollkommenheit der koranischen Sprache wird als der eigentliche Beweis für die Wahrheit des Korans gesehen." Übrigens ist die Hochsprache, in der der Koran verfasst ist, auch heute noch - 14 Jahrhunderte später - die arabische Dichtungssprache. Auch das ist ein Wunder.

Die ästhetische Dimension des Korans ist vom westlichen Bewusstsein bislang weitgehend ignoriert worden. Kermani, zur Zeit Fellow am Berliner Wissenschaftskolleg, hat mit seinem Buch, für das er im letzten Jahr den Ernst-Bloch-Förderpreis erhielt, eine Tür aufgestoßen, durch die auch der Mensch aus dem Abendland gerne eintritt. Allerdings gibt es, so Kermani, bisher keine deutsche Koranübersetzung, die die ganze Schönheit des Ursprungstextes vermitteln kann.

Tom Heithoff

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