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Gesundheit: Johnson stört

Mode oder Methode? Literaturhistoriker sind ihren Autoren mit Bourdieu auf der Spur – und verlieren sie dabei leicht aus den Augen

Menschen, die Bourdieu gelesen haben, erkennt man daran, dass sie plötzlich merkwürdig sprechen. Sie sagen nicht mehr „Politik“, sondern nur noch „das politische Feld“. Statt „Literatur“ heißt es „das literarische Feld“. Vielleicht haben sie Recht. In der Literatur ist es genau wie in der Landwirtschaft. Entweder es wächst was, oder es wächst nichts. Das ist der Unterschied. Es gibt Stoppelfelder, üppige Weizenfelder und Totalbrachen. Und Literaturwissenschaftler sind nichts anderes als Ernteinspektoren, Ertragsermittler? – Vier Tage lang haben sich germanistische Feldforscher im Literaturhaus in der Fasanenstraße zu einem bemerkenswerten Laborversuch getroffen: Wie viel Bourdieu hält die Literaturwissenschaft aus?

Nach den ersten Vorträgen ist klar, Literaturwissenschaftler sind doch mehr urbane Naturen. Sie halten gar nichts von der Landwirtschaft. Sie meinen es physikalisch. Ihre Felder sind Kräftefelder. Es gibt Pole, Schwingungen, Brechungen und andere Feldeffekte. Mit Sorge denken wir an den Stellenwert des einzelnen Atoms im Feld. Was ist es? Ein Nichts. Eine bloße Funktion des Feldes. Sollte also auch der Autor …?

Ein großer junger Mann im weinroten Jacket mit weinroter Hose und bereits etwas fliehendem blonden Haar sitzt zuversichtlich auf dem Podium des schönen Literaturhauses und spricht über Uwe Johnson. Die Veröffentlichung der „Mutmaßungen über Jakob“ im Westen heißt jetzt Johnsons „Eintritt ins literarische Feld der Bundesrepublik“. Johnson selbst hat das immer ganz anders ausgedrückt. Er hat gesagt: Ich bin umgezogen. Er ist ein bisschen S-Bahn gefahren und mit seiner Schreibmaschine in Westberlin ausgestiegen.

Aber hier hat Ulrich Krellner, der Mann in Weinrot, und haben mit ihm alle Bourdieuisten unbedingt Recht. Wenn einer solche „Feldeffekte“ hervorbringt wie Johnson: Ein Feld bildet einen Ruhmes-Plus-Pol um ihn, ein anderes, weiter östlich, bildet einen Johnson-Minus-Minus-Minus-Pol in Abwesenheit seines Autors sowie seiner Werke – wenn einer also solche Feldbewegungen verursacht, muss er mehr sein als ein Umzieher. Der Johnson-Spezialist identifiziert ihn als Kapitalisten.

Johnson akkumuliere unaufhörlich Kapital. Kulturelles, symbolisches, soziales, ökonomisches. Allerdings ist das gar nichts Johnson-Spezifisches. Alle Autoren sind bei Bourdieu Kapitalisten. Es gibt wie im wirklichen Leben Klein- und Großkapitalisten. Über Hans Werner Richter, den Gründer der Gruppe 47, erfahren wir, dass er „nur über geringes institutionalisiertes Kapital“ verfügte. Soll heißen, Richter war nur auf der Volksschule und danach Buchhändler.

Als bedeutender Kapitalakkumulator dagegen darf Ulrich aus Musils „Mann ohne Eigenschaften“ gelten, erklärt der Mitorganisator der Konferenz Norbert Christian Wolff und probiert aus, ob man mit Bourdieu nicht nur Autoren besser verstehen kann, sondern sogar ihre Werke. Wir erfahren viel über „Primärinvestitionen“ und „Kapitalausstattungen“ bei Ulrich und seinem Vater, der kritische Punkt liegt genau dort, wo er in der wirklichen Wirtschaftswelt auch liegt: Wenn der Sohn die Firma übernimmt, wird alles anders. Dass „Der Mann ohne Eigenschaften“ zu den ganz großen Romanen des letzten Jahrhunderts zählt, erkennen wir daran, dass er selbst unter einer meterdicken Bourdieu-Patina immer noch vor Eigensinn glänzt. Gegen Musil ist Bourdieu doch irgendwie ein Sekundärautor. Trotzdem haben wir nun ein wenig Angst. Werden wir künftig beim Musil-Lesen immer an „Primärinvestitionen“ und „Kapitalausstattungen“ denken müssen?

Was in der Literaturwissenschaft stört, ist vor allem der Autor. Das ist vollkommen natürlich. Das Lebendige, das Irreduzible, Nicht-Verrechenbare stört in jeder Wissenschaft. Der Autor steht bei Bourdieu immer kurz vor seiner teilchengleichen Auflösung im magnetischen Feld und seiner Selbstbehauptung als Großkapitalist. Literaturwissenschaft wird Physiko-Ökonomie. Ein interessantes Studienobjekt. Nun sind Übertragungsphänomene in Wissenschaften grundsätzlich produktiv. Und zwar genau dann, wenn man durch ihr Vergrößerungsglas mehr und anderes zu sehen bekommt als vorher. Nach dieser Tagung lässt sich das noch nicht mit Sicherheit sagen. Verstehen wir Uwe Johnsons „Jahrestage“ wirklich besser mit Bourdieu?

Der Kern des Werks, glaubt der Mann in Weinrot, bestehe in der „Untersuchung der Möglichkeitsbedingungen für die Bewusstwerdung des eigenen Habitus“. Wissenschaftler mögen solche Wortgruppen. Uwe Johnson hat das viel einfacher formuliert: Das Versteck muss so beschaffen sein, hat er gesagt, dass die Suchenden blind werden im Finden-Wollen. – Die ganze Feldtheorie mitsamt Kapitalspekulation in einem einzigen schönen Satz! Die „Suchenden“, das sind die Fremdfeld-Inspekteure. Johnson ertrug sie nicht, er wollte nicht als politischer Kronzeuge funktionalisiert werden, wo er doch nur ein „umgezogener“ Dichter war. Das brachte ihm viele Missverständnisse ein. Er war mehr und weniger zugleich. Ein Autor. Also kein Intellektueller im Bourdieuschen Sinne. Kein (politisch) Handelnder.

Soziologen wie Bourdieu haben ein natürliches Misstrauen gegen Nur-Denker und Nur-Dichter. Denn wer dichtet und denkt, ist für einen Soziologen gar nicht sichtbar. Erst als Handelnder betritt er die soziologisch beschreibbare Bühne. Johnson trotz seiner Verweigerung ins bourdieusche Scheinwerferlicht zu stellen, ist schon ein wenig gewalttätig. Feindlicher Fremdfeldübergriff. Und lassen sich Brigitte Reimann und ihr DDR-Verzweiflungsroman „Franziska Linkerhand“ mit Bourdieu wirklich neu verstehen? Abgesehen davon, dass die Kapitalverwertung im antikapitalistischen Sozialismus nun anders beschrieben werden muss (kein feldeigener Brechungseffekt, SED reglementiert Kapitalakkumulation …).

Akademiker ähneln oft Jongleuren, die zu große (Begriffs)Teller auf dünnen Stäben balancieren. Vergeblich warten wir auf einen Es-geht-auch-ohne-Bourdieu-Vortrag. Vielleicht sind die Literaturwissenschaftler im Fasanenstraßenhaus der schlagenste Beweis für Bourdieus Feldtheorie. So klug sie sind, scheinen sie ausgerichtet wie Späne in einem magnetischen Feld. Das muss er sein, der Bourdieusche Feldeffekt.

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