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Den Juckreiz verstehen. Martin Metz im Gespräch mit einem Patienten

© Paul Zinken

Juckreiz: Kratzen, bis es blutet

Chronischer Juckreiz galt lange als der kleine Bruder des Schmerzes – und wurde entsprechend nicht recht ernst genommen. Das ändert sich jetzt. Denn 20 Prozent der Bevölkerung leiden im Laufe ihres Lebens daran, sagt Martin Metz, Dermatologe und Forscher an der Charité. Wir haben ihn getroffen.

Sie kann ihn quälen, so eine Stuhllehne, wenn Peter Jaenisch sich daran anlehnt. „Wenn ich hier sitze und die Stuhllehne in der Schulter habe, löst das gleich unglaublichen Juckreiz aus“, sagt der 79-Jährige. Zu Hause, im Theater, bei einem Konzertbesuch – einmal angelehnt, und das Verlangen zu kratzen ist enorm. „Man gewöhnt sich nicht daran, es ist immer wieder wie neu“, sagt er.

Seit zehn Jahren hat Peter Jaenisch den Juckreiz. Auch jetzt im Behandlungszimmer passiert es. Er ist aus Nikolassee nach Mitte ins Allergie-Centrum-Charité gefahren, um den Dermatologen Martin Metz in der Juckreiz-Sprechstunde zu sehen. Im Wartezimmer sitzen Patienten mit chronischem Juckreiz, dem sogenannten Pruritus. Oft leiden sie wie Jaenisch schon seit Jahren darunter. Ein Juckreiz gilt als chronisch, wenn er über mehr als sechs Wochen auftritt. Es gibt mehrere Gründe dafür, wie Nieren- und Lebererkrankungen, Diabetes, Neigung zu Allergien, Nervenschäden, Krebserkrankungen und Nebenwirkungen von Medikamenten. Oft ist es das Zusammenspiel mehrerer dieser Störungen, das zum Juckreiz führt. Etwa 20 Prozent der Bevölkerung leiden im Lauf ihres Lebens darunter – sagt Metz, Professor für Juckreizforschung. „Es ist ein riesiges Problem, wurde aber bisher nicht ernst genommen.“ Juckreiz habe lange „als der kleine Bruder“ des Schmerzes gegolten, nach der Vorstellung: Erst wenn der Juckreiz eine bestimmte Schwelle erreicht, wird er zum Schmerz. Das hat die Leiden der Patienten extrem verharmlost. Erst die jüngere Forschung hat ergeben, dass Juckreiz den Weg über eigene Nervenfasern geht.

Zwischen null und sechs ordnet Peter Jaenisch den Juckreiz der vergangenen Wochen auf einer Skala ein. Null ist kein Juckreiz, zehn der stärkste vorstellbare Juckreiz. „Die Attacken haben etwas nachgelassen“, sagt er. Auch Metz sieht die Verbesserung anhand seiner Aufzeichnungen. Seit Peter Jaenisch vor drei Jahren erstmals in der Juckreiz-Sprechstunde war, hat er sein Leiden auch schon zwischen sechs und acht beziffert. Damit ist er ein typischer Fall: Man kann dem Juckreiz Linderung verschaffen, doch die Hoffnung auf Heilung ist wenig aussichtsreich. „Wir bringen die Patienten auf den Weg, dass sie mit ihrer Erkrankung klarkommen“, sagt Metz.

Durch das pausenlose Juck-Signal werden Gehirn und Haut sensibilisiert. Ist der Juckreiz erst einmal chronisch, gilt es, den Zyklus aus Jucken und Kratzen zu durchbrechen. In wenigen Fällen gibt es Patienten, die durch Medikamente von heute auf morgen keinen Juckreiz mehr verspüren. „Das ist wie eine Neugeburt“, sagt Metz. Doch auch hier gilt eine Einschränkung: Wird das Medikament abgesetzt, kehrt das Jucken zurück. „Manche Patienten kommen dann aber auch mit einer Pflegecreme klar“, sagt Metz.

Bis die Patienten bei ihm in der Sprechstunde landen, waren sie meist schon bei anderen Ärzten. Die Wartezeit auf einen Termin beträgt etwa sechs Monate. Bei etwa 75 Prozent, schätzt Metz, findet er Ursachen für die Erkrankung. Nur beweisen lassen sie sich schlecht. Eine Allergieneigung oder eine Niereninsuffizienz lassen sich nicht einfach so beseitigen. Erst wenn dann auch der Juckreiz weg wäre, hätten man Gewissheit.

Juckreiz-Patienten fühlen sich oftmals in die psychische Ecke gedrängt

Peter Jaenisch hat seit der Erkrankung vor zehn Jahren etwa sieben Medikamente und genauso viele Salben ausprobiert. Metz bietet ihm jetzt die Teilnahme an einer Studie an. „Es geht um eine Creme, die auch schon zugelassen ist. Aber nicht für Juckreiz“, erklärt er. Jaenisch nickt, er kennt das schon. Um Juckreiz zu behandeln, kommen Medikamente zum Einsatz, die eigentlich für andere Erkrankungen zugelassen sind und mildernd auf Juckreiz wirken. Medikamente gegen Epilepsie, gegen von Chemotherapie hervorgerufenes Erbrechen, zur Entgiftung bei Drogensucht, Antidepressiva. Wenn die Patienten im Beipackzettel von Drogenabhängigkeit oder von Antidepressiva lesen, fühlen sie sich oft in die psychische Ecke gedrängt. Dabei ist der Juckreiz, entgegen aller Vorurteile, in den seltensten Fällen psychisch bedingt.

Vielmehr ist es umgekehrt. Durch die Dauerbelastung werden viele Juckreiz-Patienten depressiv. „Stellen Sie sich mal vor, über Jahre hinweg Juckreiz zu haben“, sagt Metz. Die Patienten können nicht mehr schlafen, sich nicht konzentrieren, das Äußere leidet durch die Hautveränderungen. Viele sind sozial isoliert.

In seiner Forschung konzentriert sich Metz zum einen auf seine Patienten und klinische Studien, wie man sie am besten therapiert. Zudem leitet er Untersuchungen, um den Juckreiz besser zu verstehen – auch wie er zustande kommt. „Es gibt viele Formen“, sagt er. „Brennen, Stechen, Kribbeln. Wir wollen wissen, was da passiert.“ Wie der Juckreiz entsteht, beeinflusst auch die Art des Kratzens. In seiner Sprechstunde stellt Martin Metz deshalb die Frage: Wie kratzen Sie? Manche Patienten pulen sich die Haut auf, bis es blutet. Neurodermitis lässt sie großflächig mit den Nägeln schürfen, bei Nesselsucht reiben die Patienten mit den Handflächen über die juckende Stelle. Ihnen das Kratzen zu verbieten, kommt für Martin Metz nicht infrage. „Man kratzt unbewusst, es passiert einfach.“

Peter Jaenisch ist es bis heute sehr unangenehm, sich in der Öffentlichkeit zu kratzen. Früher hatte er manchmal blutige Flecken auf seinem Hemd. Mit dem Juckreiz geht er inzwischen gelassener um. Dabei hätten ihm vor allem die Gespräche in der Sprechstunde geholfen. „Ich weiß jetzt, dass es nicht unmittelbar zu beheben ist“, sagt er. Doch die Hoffnung bleibt. Für die Studie mit der neuen Creme hat er sich gleich angemeldet.

www.derma.charite.de, Terminvergabe Mo–Fr 11 bis 14 Uhr, Tel. 450 51 80 58, Mail: termin-allergologie@charite.de

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