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Gesundheit: Kanada kann’s besser

Das Einwandererland setzt in der Schule auf Lob und Disziplin. Ein Reisebericht

Wer sich einer kanadischen Schule nähert, erblickt zuerst ein großes Schild. Dort steht nicht etwa: „Schulfremden ist das Betreten untersagt“, wie man es aus Deutschland kennt, sondern „Welcome“. In Kanadas Schulen herrscht eine freundliche, geradezu entspannte Atmosphäre. Die Klassentüren stehen meist offen. Der Besucher darf die Räume mitten während des Unterrichts betreten und Lehrkräften wie Schülern bei der Arbeit zusehen – einer Arbeit, mit der Kanada bei Pisa I einen zweiten Platz gleich hinter Finnland errang. Was läuft hier so anders als in Deutschland?

Der Schlüssel zum Erfolg liegt in einer anderen Schulkultur, einer Kultur der Anerkennung. Das beginnt beim Selbstverständnis der Schule. Sie begreift sich als Gemeinschaft, in der sich die Schüler wohl und geborgen fühlen sollen. Ständig bemühen sich die Lehrer, die Kinder für Leistungen zu loben, um ihre Motivation zu fördern. Eine Lehrerin zum Beispiel stellt ihre Schüler der Besucherin mit den Worten vor: „Wir sind eine Gruppe hochintelligenter Jugendlicher, aber haben noch einige Schwierigkeiten in der Sprache. Doch das werden wir auch bald schaffen.“

Das ist keine „Kuschelpädagogik“. Es geht darum, bei den Schülern überhaupt erst die emotionalen Voraussetzungen für das Lernen zu schaffen. Deshalb gibt es auch besondere Programme, mit denen die Wertorientierung und soziales Verhalten gefördert werden. Lehrer und Eltern müssen sich verpflichten, gewünschtes Verhalten vorzuleben (role modeling). Vergreift sich eine Lehrkraft, im Ton, muss sie sich bei den Schülerinnen und Schülern entschuldigen. So freundlich das Klima ist, so sehr ist es auch von klaren Regeln beherrscht. Disziplinprobleme werden konsequent bekämpft. Eltern oder Schülern, die aggressiv auftreten, wird sofort sehr deutlich gemacht, dass so ein Verhalten an der Schule keinen Platz hat.

Kanadische Schulen machen vor, dass kognitive Leistungen und soziales Lernen kein Gegensatz sind, sondern sich geradezu bedingen. Jedem Kind wird vom Schulstart an eingeflößt, dass es Verantwortung für ein gutes Schulklima trägt. Buddy – ein guter Kumpel – zu sein, ist schon für Elfjährige erstrebenswert. Wer zuverlässig ist, andere Kinder respektvoll behandelt und einfallsreiche Spiele kennt, darf eine Patenschaft für ein Kindergarten-Kind übernehmen und in der Pause mit ihm spielen. Die Vierjährigen warten dann aufgeregt auf ihre elfjährigen Freunde, die die Spielgeräte besorgen und mit ihnen die Pause gestalten.

Die kanadische Erziehungsphilosophie ruht auf drei großen Rs: Reading, Respect und Responsibility – Lesen, Respekt und Verantwortung. Unübersehbar stehen diese Ziele auf Postern, die an den Wänden der Klassenräume hängen. „Im nächsten Jahr sollen zwei Prozent mehr Schüler gute Ergebnisse erreichen“, heißt es da ganz konkret. Anders als bei uns gibt es klare Vorgaben darüber, was am Ende des Jahres gekonnt werden soll – und auch darüber, was die Eltern dazu beitragen sollen. Zu Schuljahresbeginn gibt es eine „Messe“ für Kinder und Eltern, in der der Lehrplan des Jahres vorgestellt und schriftlich verteilt wird. Auch der Tages- und Wochenplan ist bekannt. Jeder weiß, was von ihm erwartet wird.

In Deutschland geht man vielfach davon aus, dass der Stoff die Schüler gleichsam aus sich selbst heraus motiviert. Der kanadische Unterricht geht dagegen sehr viel mehr von der Person der Schüler aus. Zu Schuljahresbeginn gestaltete etwa eine Klasse ein „Mind Map“ „Mathe und ich“, also eine Art „Landkarte“ mit Zahlen rund um die Schüler selbst. Da wird der Körper gemessen, werden die Familienmitglieder gezählt und geometrische Muster in der kindlichen Umgebung beschrieben. Oder in der Lerngruppe der neuen Migranten erforschen Schüler den Hintergrund ihrer Klassenkameraden und schreiben Geschichten wie „Mein erster Kulturschock“.

Kanadische Schüler arbeiten oft fächerübergreifend und anwendungsbezogen. Ein Beispiel zum Thema Statistik: Die Schüler bekommen die Aufgabe, die Vorlieben ihrer Mitschüler zu untersuchen. Zuerst wählen sie sich einen Aspekt. Dann schätzen sie das Ergebnis und führen die Befragung durch. Schließlich stellen sie die Ergebnisse in einer Grafik dar. In der Regel können die Lehrkräfte für solche Projekte auf dicke Ordner mit Stundenentwürfen zurückgreifen, inklusive Arbeitsbögen, die nur kopiert werden müssen.

Von deutschen Lehrern ist bekannt, dass sie vor allem den „fragend-entwickelnden Unterricht“ pflegen. Dabei steht der Lehrer vor der Klasse und versucht, die Schüler durch Fragen auf die von ihm geplanten Lernziele zu lenken. Das ist aber nicht nur sehr anstrengend für die Lehrer, sondern hindert die Schüler auch daran, sich den Stoff selbstständig in ihrem eigenen Tempo zu erschließen. In Kanada dagegen arbeiten die Kinder schon früh sehr selbstständig, in Gruppen oder alleine. Es wird erwartet, dass sie sich zunächst untereinander helfen, bevor sie die Lehrerin fragen.

Entscheidend für den späteren Lernerfolg in allen anderen Fächern ist das Lesen, wie Pisa gezeigt hat. An kanadischen Schulen wird alles getan, um zahlreiche Leseanlässe zu schaffen. Zusätzlich zum Unterricht gibt es Lesegruppen in der Bücherei, Ehrenamtliche helfen. Wenn die Lesefreude auf sich warten lässt, kommen die Schüler in spezielle Programme für Leseschwache. Die Bücher, die sie dort lesen, sind teilweise vom Niveau her untere Populärliteratur, Action-, Horror- oder Sportgeschichten über bekannte Teamchefs, aber sie werden von den Jugendlichen angenommen. Die Bücherei ist in fast jeder Schule auch räumlich das Zentrum und immer belebt.

Von der Verwaltung über die Schulleitung bis zu den Lehrkräften, Schülern und vor allem den Eltern sind die Verantwortlichkeiten klar geregelt. Die Rechenschaftspflicht (Accountability) – häufig auch mit Verträgen besiegelt – gehört für jeden zur Definition der eigenen Aufgaben. Alle lassen sich auch in die Karten gucken. Der Entwicklungsplan für den Schuldistrikt sowie der Haushalt stehen im Netz, genauso wie die Daten über die Schule. Die klare Zuteilung von Verantwortlichkeiten führt wohl auch dazu, dass sowohl die Verwaltung als auch die Schulen mit großem Pragmatismus an ihre Aufgaben herangehen. „Wir haben ein Problem, und wir versuchen es zu lösen“, ist eine übliche Formulierung. Nicht ein einziges Mal habe ich gehört, dass zunächst andere ihre Aufgaben zu erledigen hätten.

Natürlich lassen sich fremde Schulsysteme nicht einfach auf Deutschland übertragen, aber es kann daraus gelernt werden. Kanadische Schulen bieten dazu reichlich Gelegenheit – und dies nicht etwa mit kleineren Klassen oder mehr Geld.

Die Autorin ist Koordinatorin der Bildungskommission der Heinrich-Böll-Stiftung. Vom März 1989 bis zum November 1999 war sie Schulsenatorin in Berlin. Ihr Bericht basiert auf Einblicken während eines vierwöchigen Aufenthalts in Kanada, bei dem sie fünfzehn Schulen in vier Schulbezirken besuchte.

Sybille Volkholz

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