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Gesundheit: Keine Angst vor zu vielen Akademikern

Wer jahrelang studiert hat, will die Früchte ernten. Der Taxifahrer mit dem Diplom in der Tasche mag zwar typisch für die Gegenwart erscheinen, in Wirklichkeit übernimmt er nur eine vorübergehende Beschäftigung.

Wer jahrelang studiert hat, will die Früchte ernten. Der Taxifahrer mit dem Diplom in der Tasche mag zwar typisch für die Gegenwart erscheinen, in Wirklichkeit übernimmt er nur eine vorübergehende Beschäftigung. Aber die Perspektive, daß auch in Zukunft die meisten Akademiker einen Beruf finden, der sie ein Leben lang ernährt, ist geschwunden. Nicht nur der Wechsel des Arbeitgebers ist normal geworden. Der Wechsel des Berufs wird immer wahrscheinlicher. Nicht mehr der eine, an der Hochschule erlernte Beruf wird das Leben bestimmen, es können mehrere Berufe werden, die nicht aufeinander bezogen sein müssen.Ist wegen schwindender Gewißheiten von einem Studium abzuraten? Gewiß nicht. Nur muß sich die Ausbildung an den Hochschulen ändern. Nicht mehr auf eine Berufsfähigkeit soll im Studium vorbereitet werden, sondern nach Ansicht des Wissenschaftsrats auf die "Beschäftigungsfähigkeit". Der Wissenschaftsrat stimmt jedenfalls nicht in Kassandrarufe von einem akademischen Proletariat ein, wie sie seit Jahren von Konservativen zu hören waren. Selbst der Anstieg der Akademiker-Arbeitslosigkeit seit den 70er Jahren ist nicht so dramatisch verlaufen, daß man von einem Studium abraten müßte. Jetzt hat der Wissenschaftsrat eine Empfehlung über das Verhältnis von Hochschulausbildung und Beschäftigungssystem verabschiedet. Daß dieser Empfehlung Wissenschaftler sowie Vertreter der Länder und des Bundes mit erdrückender Mehrheit zugestimmt haben, bezeichnete der Vorsitzende des Wissenschaftsrats, Professor Winfried Schulze, gestern vor der Presse als eine "Revolution". Der maßgebliche Autor der Empfehlung, Professor Karl Ulrich Mayer, erklärte: "Der Horror ist weg. Man kann künftig nicht mehr konstatieren, daß die Hochschulausbildung der falsche Weg ist, wenn sich 30 Prozent eines Jahrganges für den Beginn eines Studiums entscheiden."Zunächst ist nicht nur im Ausland, sondern auch in Deutschland die Zahl der Erwerbstätigen mit einer Hochschulausbildung enorm gestiegen. In Deutschland wurden im Jahr 1978 nur 1,2 Millionen Akademiker gezählt, 1997 waren es bereits 4,3 Millionen. Im Jahr 1960 verfügten erst drei Prozent der Erwerbstätigen über einen Hochschulabschluß, 1997 sind es 15 Prozent. Angesichts dieser enormen Steigerungsraten ist es nicht verwunderlich, daß die Zahl der Arbeitslosen mit Hochschulabschluß in absoluten Zahlen zugenommen hat, aber nicht in der für einen Vergleich mit anderen Berufsgruppen wesentlichen Arbeitslosenquote. Die Arbeitslosenquote der Akademiker lag in den letzten Jahren nahezu konstant bei vier Prozent, was angesichts der allgemeinen Arbeitslosenquote von 11,8 Prozent gering ist.Langzeitarbeitslose, die mehr als zwei Jahre auf einen Job warten, gibt es eigentlich nur unter älteren Akademikern über 50. Sie sind Opfer des rapiden technologischen Wandels und der Umstellung auf Computer und Internet geworden. Die Betriebe haben sich ihrer entledigt. Jüngere Kräfte als Nachrücker gab es genug.Wenn es auch nur wenig Langzeitarbeitslose unter den Hochschulabsolventen gibt, so ist doch eine Sucharbeitslosigkeit bestimmend geworden. Die jüngeren Hochschulabsolventen sind meist ein halbes bis ein Jahr auf Suche nach der passenden Stelle, und sie müssen die Zeit nicht nur mit vielen Bewerbungsschreiben überbrücken, sondern auch mit Werkaufträgen oder Teilzeitjobs. Nach einem Jahr haben auch sie in der Mehrzahl ihren Beruf gefunden. Unterwertige Beschäftigung von Akademikern? Auch dieses Schreckgespenst relativiert sich auf eine Gruppe von etwa 14 Prozent.Über die Berufsorientierung äußern sich die Studenten sehr unterschiedlich. Während sie die Vorbereitung der Fachhochschulen loben, kritisieren sie das Studium an den Universitäten als wenig berufsvorbereitend. Der Wissenschaftsrat plädiert daher für einen verstärkten Ausbau der Fachhochschulen. Im internationalen Vergleich werden immer die hohen fachlichen Leistungen deutscher Hochschulabsolventen gelobt, zugleich aber wird bemängelt, daß in den Schlüsselqualifikationen wie Teamfähigkeit, Kreativität, Entscheidungsfreude, Verantwortungsbewußtsein die Deutschen weit hinter den Angelsachsen hinterherhinken. Und sie kommen zu spät auf den Arbeitsmarkt, weil die deutschen Studienzeiten mit durchschnittlich sechs Jahren bis zum Magister oder Diplom zu lang sind. Auch das muß geändert werden.Kritik äußert der Wissenschaftsrat an der Kurzsichtigkeit der Wirtschaft. Von den massenhaften Entlassungen vor allem älterer Ingenieure und Chemiker seien für die Studierwilligen die falschen Signale ausgegangen. In Wirklichkeit seien Ingenieure und Chemiker entlassen worden, weil viele der älteren Arbeitnehmer nicht über Computerkenntnisse verfügten und den neuen Herausforderungen einer globalisierten Wirtschaft kaum gewachsen erschienen. Statt diese wertvollen Arbeitskräfte durch Umschulungen zu erhalten, habe man sie entlassen. Heute stehe die Wirtschaft vor der Situation, daß viele Studenten vom Ingenieur- und Chemiestudium abgeschreckt wurden und nun der Bedarf an künftigen Ingenieuren und Chemikern kaum zu befriedigen sei. Künftig sollte die Wirtschaft bedenken, welche Signale von ihrem Verhalten ausgingen. Es sei unumgänglich, die Studenten darauf aufmerksam zu machen, daß auf ein Überangebot an Fachkräften ein Mangel folgen könne, man also bei langfristigen Entscheidungen wie einer Berufsausbildung in Zyklen und Antizyklen denken müsse.Der Wissenschaftsrat möchte vermeiden, daß in Zukunft Arbeitgeber, Arbeitsämter und die Hochschulen aneinander vorbei agieren. Den Hochschulen weist er die Aufgabe zu, sich stärker als bisher darum zu kümmern, welche Erfahrungen ihre Absolventen beim Übergang vom Studium in den Beruf gemacht haben. Bessere Chancen, die die Absolventen im Berufsleben haben, sollen bei der Vergabe der Gelder an die einzelnen Fächer künftig berücksichtigt werden.Mit dem traditionellen Selbstverständnis der Universitäten geht der Wissenschaftsrat hart ins Gericht: Wenn die Universitäten weiter auf Distanz zum Arbeitsmarkt stünden, dann handelten sie den eigentlichen Interessen der Studenten zuwider. Auch Universitäten müßten sich der Aufgabe stellen, "die Beschäftigungsfähigkeit von Beginn des Studiums als ein Studienziel zu verfolgen." An Standorten mit mehr als 20 000 Studierenden sollten Hochschulteams eingerichtet werden, in denen Berufsberater aus Arbeitsämtern und den Hochschulen Orientierungs- und Vermittlungsdienste übernehmen. In den Fachbereichen der Hochschulen sind Studiendekane zu ernennen, damit auch die Studenten fachkundigen Rat schon während ihres Studiums erhalten. Künftig sollen Studenten nicht länger die Erfahrung machen, daß die meisten Professoren auf die Frage nach den Berufschancen mit einem Achselzucken reagieren.

UWE SCHLICHT

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