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Wewetzer

© Kai-Uwe Heinrich

Kolumne: Dr. WEWETZER: Neues Leben aus dem Pilz

Unser Gesundheitsexperte fahndet nach guten Nachrichten in der Medizin. Heute: Hilfe bei Multipler Sklerose. Ein neuer Wirkstoff soll Rückfälle verhindern.

Fingolimod und ich“ heißt das Motto des Tagebuchs, das eine Amerikanerin ins Internet gestellt hat. In diesem berichtet sie über ihr Dasein als medizinisches Versuchskaninchen. Denn die Frau ist an dem Nervenleiden Multiple Sklerose, MS, erkrankt. Seit mehr als zwei Jahren nimmt sie an einem Test mit dem Anti-MS-Wirkstoff Fingolimod teil. „Ich fühle mich, als ob ich mein Leben zurückbekommen habe“, stellt sie euphorisch gegen Ende der Studie fest. „Es ist nichts weniger als ein Wunder.“ Seit mittlerweile fast drei Jahren sei sie ohne Rückfall, das sei noch nie vorgekommen. Und alles dank der „kostbaren rosa Pille“, wie sie das Mittel mittlerweile nennt.

Für einen Gesunden ist dieses Hochgefühl schwer nachvollziehbar, für andere MS-Kranke dagegen schon. Denn das Nervenleiden MS verläuft meist in Schüben, und natürlich fürchtet man sich in einer schubfreien Periode, in einer Zeit ohne neue Lähmungen, Schmerzen oder andere Nervenstörungen, vor dem nächsten „Biss“, vor der nächsten Attacke durch die MS. Wer das weiß, kann die innige Beziehung zu einem Medikament nachvollziehen, das einem das Gefühl geben kann, gesund zu sein. Fast.

Die Studie, an der die seit vielen Jahren erkrankte Tagebuchschreiberin teilgenommen hat, ist mittlerweile zusammen mit zwei weiteren ähnlichen Untersuchungen im Fachblatt „New England Journal of Medicine“ veröffentlicht worden. Getestet wurden neben Fingolimod, das zuerst aus einem blässlich-unscheinbaren Pilz gewonnen wurde, ein weiterer Wirkstoff mit Namen Clatribin.

Erfreuliches Ergebnis: Die Wirkstoffe reduzierten die Zahl der Krankheitsschübe um gut die Hälfte und verringerten das Fortschreiten der MS um ein Drittel. Sicher haben noch andere MS-Patienten ein kleines Wunder erlebt. Dabei erwies sich Fingolimod auch gegenüber dem MS-Standardmittel Interferon-beta als überlegen. Ein Vorteil der neuen Wirkstoffe ist, dass sie nicht gespritzt werden müssen, sondern geschluckt werden können. Rosa Pillen eben.

Bei der MS werden die Umhüllungen der Nervenfasern, gleichsam ihre Schutzkabel, durch eine Entzündung zerstört. Das führt zu vielfältigen Störungen im Nervensystem. Die Ursache dieses falschen Alarms im Immunsystem ist ungeklärt. Aber alle gängigen Therapien versuchen, die Körperabwehr wieder an die Kandare zu legen, auch die neuen Wirkstoffe. Daher rührt ihre gefährlichste Nebenwirkung, denn ein unterdrücktes Immunsystem macht anfälliger für Krankheitserreger wie Herpesviren und manche Tumoren.

„Die Wirksamkeit ist exzellent, aber die Mittel müssen wegen dieser Risiken genau überwacht werden“, sagt der Neurologe Lutz Harms von der Berliner Uniklinik Charité, der selbst an einer der Untersuchungen zu Fingolimod mitgearbeitet hat. In Deutschland könnte das Mittel Anfang 2011 auf dem Markt sein.

Gut, dass zurzeit noch weitere neue und vielversprechende Wirkstoffe geprüft werden. Sie alle können helfen, die Krankheit besser in den Griff zu bekommen. Eine wirklich gesunde Konkurrenz.

Unser Kolumnist leitet das Wissenschaftsressort des Tagesspiegels. Haben Sie eine Frage zu seiner guten Nachricht?

Bitte an: Sonntag@Tagesspiegel.de

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