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Gesundheit: Kommissar Computer obduziert virtuell

Die junge Frau ist Opfer eines brutalen Gewaltverbrechens geworden. An ihrer Hüfte hat der mutmaßliche Täter seine Zähne in die Haut gegraben - eine Spur, der der Biologe Walter Brüschweiler und sein Kollege Marcel Braun von der Stadtpolizei Zürich nachgehen: Sie fotografieren die Bissverletzung, digitalisieren die Bilder und geben die Daten in einen Rechner ein.

Die junge Frau ist Opfer eines brutalen Gewaltverbrechens geworden. An ihrer Hüfte hat der mutmaßliche Täter seine Zähne in die Haut gegraben - eine Spur, der der Biologe Walter Brüschweiler und sein Kollege Marcel Braun von der Stadtpolizei Zürich nachgehen: Sie fotografieren die Bissverletzung, digitalisieren die Bilder und geben die Daten in einen Rechner ein. Das Computerprogramm erstellt ein wirklichkeitsgetreues, dreidimensionales Modell des Hüftbereichs, in dem der Zahnabdruck sichtbar ist.

Auch von den Gebissen der Tatverdächtigen, die von der Polizei festgenommen werden, lassen die Züricher Experten Gipsmodelle machen, fotografieren sie und füttern den Rechner mit den Bilddaten. "Das Gebiss eines Verdächtigen passte perfekt zu den Spuren in der Haut, vor allem im Bereich der Frontzähne", sagte Brüschweiler auf der 80. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin in Interlaken. Der Verdächtige hat die Tat inzwischen gestanden.

Fotogrammetrie heißt das Verfahren, das Wissenschaftlicher und Unfalltechnischer Dienst der Züricher Polizei zusammen mit dem Institut für Rechtsmedizin der Universität Bern weiterentwickeln. Die Methode kam früher schon bei größeren Objekten zum Einsatz, zum Beispiel bei Verkehrsunfällen. Jetzt vermessen die Experten Wunden, rekonstruieren Tatwerkzeuge oder passen gefundene Gegenstände virtuell in Wunden ein. "Eine gute Kleinbild- oder Mittelformatkamera reicht für die Aufnahmen aus", sagt Marcel Braun.

Aus mindestens drei verschiedenen Perspektiven, darunter einer lotrechten Ansicht, fotografiert der Polizist das Objekt und in jeweils drei verschiedenen Ebenen pro Perspektive. Die Brennweite bleibt konstant. Hilfreich sind Markierungen auf dem Objekt und eventuell ein Maßstab daneben. Die fotografische Feinarbeit zahlt sich bei den Ermittlungen aus, sagt Braun. Die Polizei kann jetzt besser beurteilen, ob ein am Tatort gefundener Gegenstand als Waffe in Frage kommt oder nicht.

Weitere Vorteile: Der äußere Zustand des Opfers wird nicht verändert, und die 3-D-Rekonstruktionen sind zeitlose Dokumentationen, die auch vor Gericht Verwendung finden können. Richard Dirnhofer, Leiter des Berner Instituts, entwickelt die schonende Untersuchungsmethode mit seiner Arbeitsgruppe und den Züricher Polizeidiensten.

Bleiben die Forscher mit der Fotogrammetrie noch an der Oberfläche, so geht die "Virtopsie" unter die Haut: Es handelt sich um eine Autopsie am Bildschirm. Basis sind Aufnahmen mit dem Mehrschicht-Computertomographen (MSCT) sowie dem Magnetresonanztomographen (MRT). 30 Minuten dauert eine Untersuchung mit dem MSCT vom Scheitel bis zur Sohle, sagt Michael Thali aus Dirnhofers Arbeitsgruppe.

Die MSCT-Aufnahmen liefern vor allem Informationen über die knöchernen Strukturen, auch solche, die bei der herkömmlichen Autopsie Probleme machen. Das sind zum Beispiel Knochenbrüche im Gesicht zwischen Oberkiefer und Augen. Auch Gasansammlungen, mögliche Ursache oder Folge eines unnatürlichen Todes, lassen sich damit sichtbar machen. Im Gegensatz zur Obduktion mit dem Skalpell lässt sich auch die Menge des Gases bestimmen.

Die Magnetresonanz-Aufnahmen zeigen Veränderungen im weichen Gewebe, also von Muskeln und Bindegewebe, wie es zum Beispiel bei Blutungen der Fall ist. Aus den Bildinformationen der beiden Verfahren setzt der Computer ein dreidimensionales Modell des Körpers zusammen, den die Forscher jetzt am Bildschirm Schicht für Schicht analysieren können. Stoßen sie bei der virtuellen Obduktion auf verdächtig aussehendes Gewebe, können sie mit kleinsten Schnitten gezielt eine reale Probe entnehmen.

Dirnhofer und sein Team untersuchten auf diese Weise 42 Menschen, die durch Schussverletzungen und andere Formen der Gewalt sowie durch Verkehrsunfälle und Brände ums Leben gekommen waren. Die Virtopsie lieferte bei immerhin 55 Prozent der Gestorbenen die richtigen Todesursachen und Verletzungsmuster.

Es zeigten sich auch Vorteile gegenüber der anschließenden konventionellen Autopsie. So ließ sich bei einer Fahrradfahrerin, die von einem Auto tödlich verletzt worden war, feststellen, aus welcher Richtung das Fahrzeug gekommen war. Bei einem Stromtodopfer konnten die Forscher erkennen, welchen Verlauf der elektrische Strom im Körper genommen hatte. Die Virtopsie hat jedoch auch noch Schwächen. Abgestorbenes Gewebe im Herzmuskel, Blutgefäßkrankheiten ohne verdichtete Gefäßwände oder winzige Einblutungen sind kaum oder gar nicht zu erkennen. Andere Gewebeveränderungen lassen sich überhaupt nur durch mechanisches Aufspannen bei der Autopsie diagnostizieren.

Deshalb zweifeln Kritiker daran, ob die Virtopsie jemals die Autopsie wird ersetzen können. Stattdessen fürchten sie, die ohnehin schwierige Autopsie-Ausbildung könne Schaden nehmen. Dirnhofer und sein Team sehen die Vorteile auch darin, dass Angehörige einer verletzungsfreien oder minimal-invasiven Virtopsie eher zustimmen könnten als der herkömmlichen Obduktion mit Skalpell und Säge.

Die Obduktionsrate liegt in Deutschland mit vier bis fünf Prozent der Toten so niedrig, dass einer Untersuchung von über 20 rechtsmedizinischen Instituten zu Folge jährlich 1200 Tötungen, aber auch viele ärztliche Kunstfehler übersehen werden. Zudem lassen sich die im Rechner gespeicherten Ergebnisse jederzeit überprüfen. "Es dürfte aber noch etwa zehn Jahre dauern, bis die Methode Eingang in die rechtsmedizinische Routine findet", schätzt Dirnhofer.

Nicola Siegm, -Schultze

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