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"Stadtluft macht nicht nur frei, sondern auch neugierig und klug", sagt Richard Sennett.

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Leben in der Großstadt: Stress, lass nach! Oder lieber nicht?

Berlin - wie beeinflusst das Leben in der Großstadt die psychische Gesundheit? Die Diskussionsreihe "Stress and the City" will Antworten finden. Zu Besuch: Der Soziologe Richard Sennett.

„Was für ein Stress!“ Der Kultursoziologe Richard Sennett kann nicht verstehen, dass ein solcher Satz in Deutschland automatisch wie ein Hilferuf klingt. „Im Englischen hat das Wort Stress immer auch eine positive Bedeutung: Es bedeutet Stimulation, Anregung und Aufregung.“ Und genau das kann der Mensch nach Ansicht des Forschers, der in London und in New York lebt und arbeitet, in den Großstädten dieser Welt finden. Stadtluft macht nicht nur frei, sie macht auch neugierig und klug. Jedenfalls unter bestimmten Bedingungen. In seiner Keynote zur zweiten Veranstaltung der Reihe „Stress and the City“, zu der die Theodor-Fliedner-Stiftung, die Charité und die Alfred-Herrhausen- Gesellschaft vor kurzem ins Allianz-Stiftungsforum am Pariser Platz geladen hatten, stellte Sennett dar, welche Voraussetzungen der Mensch und seine Stadt mitbringen müssen, um derart zu harmonieren. Der Verfasser des Buches „Fleisch und Stein. Der Körper und die Stadt in der westlichen Zivilisation“ findet es prinzipiell nicht schlecht, dass Städte zwiespältige Erfahrungen bieten, dass sie Tempo fordern und dass sie auch verunsichern können. „Erwachsen zu werden heißt ja nichts anderes, als mit dieser Art von Stress umgehen zu können.“

Eine toxische Mischung: Dichte bei gleichzeitiger sozialer Isolation

Ob das gelingt oder ob die Großstadt zur Gefahr für die Seelen ihrer Bewohner wird, hängt seiner Ansicht nach aber stark von der Gestaltung urbaner Räume ab. In bester Absicht errichtete geschützte „gated communities“ mit Eingangskontrollen sind kontraproduktiv, wie er anhand von Studien aus Florida belegte: Jugendliche, die dort aufwachsen, konsumieren 30 Prozent mehr Drogen als Teenager in anderen, „normaleren“ Vierteln. „Vielleicht ist das der einzige Weg für sie, ihr Leben etwas aufregender zu gestalten.“ Befragungen hätten zudem gezeigt, dass die eingezäunten Wohnviertel auch alten Menschen nicht behagen. „Sie fühlen sich isoliert und haben zu wenige Menschen, mit denen sie reden könnten.“ Unter solchen Bedingungen kommt dann wirklich der negative Stress des urbanen Lebens ins Spiel. Der „soziale Stress“ also, den Psychiater Mazda Adli, Chefarzt der Fliedner-Klinik und Initiator der Veranstaltungsreihe, als „Summe aus sozialer Dichte und sozialer Isolation“ beschreibt. Stress, der entsteht, wenn Menschen sich eng auf der Pelle hocken und doch nicht miteinander reden. „Wenn beides gleichzeitig auf uns einwirkt, entsteht die toxische Mischung, die uns als Städter krank machen kann.“ Hinweise darauf, dass das Leben in großen Städten bei manchen Menschen auf die Dauer die Verarbeitung von Emotionen erschweren kann, gab vor drei Jahren eine Studie von Psychologen unter Leitung von Andreas Meyer-Lindenberg vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim. Die Teilnehmer aus Stadt und Land mussten dafür unter Stress schwierige Aufgaben lösen, gleichzeitig wurde ihrem Gehirn im fMRT bei der Arbeit zugeschaut.

Die gesundheitlichen Risiken sind ungleich über Berlin verteilt

"Stadtluft macht nicht nur frei, sondern auch neugierig und klug", sagt Richard Sennett.
"Stadtluft macht nicht nur frei, sondern auch neugierig und klug", sagt Richard Sennett.

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Adli wünscht sich mehr solcher Untersuchungen. Noch sei die Datenlage dünn. Mediziner, Psychologen, Stadtplaner und Architekten sollten sich gemeinsam dem Gebiet des „Neurourbanismus“ widmen. Ein Forum dafür bereitet der Psychiater derzeit vor. „Ein solcher Zusammenschluss von Neurowissenschaften, Stadtplanung, Architektur und Politik kann helfen, Stress zu messen, zu entschlüsseln und politische Handlungskonsequenzen zu formulieren.“ Ansätze dazu gibt es bereits. So hat die London School of Economics zusammen mit der Alfred-Herrhausen-Gesellschaft im Jahr 2005 das „Urban Age Project“ gestartet, in dem Probleme von Megastädten wissenschaftlich untersucht werden sollen. Neben Verkehr, Wirtschaft und Nutzung von öffentlichen Räumen geht es dabei auch um die Gesundheit der Großstädter. Mehr über die Auswirkungen des Stadtlebens auf die menschliche Psyche zu erfahren ist schon deshalb wichtig, weil heute die Hälfte der Weltbevölkerung in städtischen Agglomerationen lebt und es im Jahr 2050 voraussichtlich zwei Drittel sein werden. Und weil erwiesen ist, dass Städter häufiger unter Schizophrenie, unter Depressionen und Angststörungen leiden. Wie für viele andere Städte ist auch für Berlin aber belegt: Bezirk ist nicht gleich Bezirk, Kiez ist nicht gleich Kiez. Die gesundheitlichen Risiken sind ungleich über die Stadt verteilt, die Lebenserwartung ist in Steglitz-Zehlendorf deutlich höher als in Friedrichshain-Kreuzberg. Ist für die seelische Lage der Berliner in Analogie zu „Google Street View“ eine Art „Google Mood View“ denkbar, ein „Stimmungsatlas“ der Hauptstadt? Kein Problem, so führte Jens Redmer von Google Deutschland aus: „Wir können externe Daten in unsere schon vorhandenen Karten der Stadt einspeisen.“ Die Frage ist allerdings, wie die Daten für einen solchen Stadtplan der aktuellen emotionalen Verfassung der Bürger überhaupt gewonnen werden sollen. Mario Czaja, Senator für Gesundheit und Soziales, gab in der Diskussion zudem zu bedenken, dass ein handlungsorientierter Sozialstrukturatlas mit Präventionsangeboten für Berlin längst existiert.

Präventionsangebote, gesundheitliche Versorgung, Bildung, Kulturangebote – all das sind Vorzüge der Großstadt, von Wissenschaftlern auch als „Urban Advantage“ bezeichnet. „Aber erreicht man damit die Menschen?“, fragte Czaja. „Auf Hightech muss High Touch folgen. Wir wissen zum Beispiel, dass auch Nachbarschaft gegen Stress helfen kann.“ Gute Stadtplanung könne mit Straßen und Plätzen, die zum Verweilen einladen, dazu beitragen, dass Bürger nicht in ihren eigenen vier Wänden vereinsamen, meint Adli. Ähnlich wie als wirksame Vorbeugung gegen körperliche Leiden in den letzten Jahren die „mediterrane Diät“ mit viel Gemüse, Obst und Olivenöl entdeckt wurde, könnte sich für die Psyche ein „mediterranes Stadtleben“ mit Cappuccino auf der Piazza und Einkaufsbummel auf dem Markt als bekömmlich erweisen. Allerdings gibt es auch Gründe für negativen Stress in der Großstadt, die damit nicht zu beheben sind. Ursachen für „Kriechstress, der unter die Haut gelangt“, wie Adli ihn beschreibt. Der Psychiater verwies auf einen noch unveröffentlichten Teil der großen Studie zu Migration und Seelischer Gesundheit („SeGeMi“), die die Charité, unterstützt von der Volkswagen-Stiftung, unter Leitung von Andreas Heinz zusammen mit Forschern aus Hamburg und Istanbul durchgeführt hat. „Dort zeigt sich, dass Armut in der eigenen sozialen Umgebung großen Einfluss auf die Entwicklung psychischer Beschwerden nimmt, sogar größeren als eigene Armut.“ Adli betrachtet Angst vor sozialem Abstieg und Statusverlust als ausgesprochen wichtigen Verursacher von negativem Stress. Dem stimmte bei der Veranstaltung auch Soziologe Sennett vorbehaltlos zu, bei allem sonstigen Optimismus: „Wo wie in Detroit eine Arbeitslosenquote von 35 Prozent besteht, da bieten auch stimulierende Kultur und Stress-Stadtpläne keine Lösung.“

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