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Gesundheit: Lizenz zum Lehren

Privatisierte Schulen, Lohn nach Leistung, an die Uni ohne Abi: Experten fordern radikale Bildungsreform

Jedes Kind soll ab dem vierten Lebensjahr in den Kindergarten gehen. Schulen sollen von privaten Trägern übernommen werden, Lehrer nicht mehr Beamte sein, sondern nur noch befristet eingestellt und leistungsabhängig bezahlt werden. Und neben dem Abitur sollen auch Eignungstests den Weg an die Hochschulen freimachen: Der „Aktionsrat Bildung“ gibt der Politik Hausaufgaben auf, die einen radikalen Umbau des heutigen Bildungssystems bedeuten würden.

Das 2005 gegründete Gremium von Bildungsexperten unter dem Vorsitz des Erziehungswissenschaftlers und Präsidenten der Freien Universität Berlin, Dieter Lenzen, legte gestern in München sein erstes „Jahresgutachten“ vor, in dem das Bildungswesen massiv kritisiert wird. Es sei sozial selektiv und durch mangelnde Bildungsgerechtigkeit gekennzeichnet. Mitautoren sind der Koordinator der Bildungsstudie Pisa, Manfred Prenzel, und der Chef des Centrums für Hochschulentwicklung (CHE), Detlef Müller-Böling. „Mit dem Jahresgutachten wollen wir den politischen Reformdruck erhöhen“, sagte Randolf Rodenstock, Präsident der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft und Initiator des Aktionsrats Bildung.

Bildungspolitiker aller Parteien reagierten kontrovers auf die Empfehlungen. Jan-Hendrik Olbertz, Bildungsminister in Sachsen-Anhalt und Sprecher der unionsgeführten Länder, begrüßte, „dass die Erziehungswissenschaftler den Staat als Hauptverantwortlichen für Bildung herausfordern“. So wiesen die Autoren zu Recht auf die „brisante Problemlage“ bei der frühkindlichen Bildung und Erziehung hin. Gleichwohl seien die Vorschläge in sich „widersprüchlich“.

Der Vorsitzende der Kultusministerkonferenz und Berliner Bildungssenator, Jürgen Zöllner (SPD), sagte, vieles von dem, was die Autoren fordern, sei wünschenswert. „Praktisch ist aber nicht alles umsetzbar.“ Priska Hinz, Bildungsexpertin der Grünen im Bundestag, unterstützte die Wissenschaftler: Die Forderungen deckten sich mit denen, die die Grünen seit langem aufstellten. Ulrich Thöne, Vorsitzender der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW), nannte den Vorstoß dagegen „marktradikalen Schwachsinn“.

Das „Jahresgutachten 2007“ mündet in „Handlungsempfehlungen an die Politik“.

Kindergärten

Als Schlüssel zur Beseitigung von ungleichen Bildungschancen sehen die Erziehungswissenschaftler die frühkindliche Erziehung „in Bildungseinrichtungen“. Sie fordern „die Einführung einer Kindergartenpflicht ab dem vollendeten vierten Lebensjahr“. Einen Rechtsanspruch auf einen beitragsfreien Kindergartenplatz solle es ab dem zweiten Lebensjahr geben. Dort müssten die Kinder von akademisch ausgebildetem Personal nach Bildungsplänen betreut werden, die mit den Grundschulen abgestimmt sind. KMK-Präsident Zöllner gab zu bedenken, es sei zwar notwendig sei, dass alle Kinder in die Kita gehen, ein Zwang würde aber „zu vielen rechtlichen Problemen führen“.

Schulen

Die Kinder sollen bundesweit länger gemeinsam lernen: „Frühestens nach sechs Jahren“ dürften sie von der Grundschule auf eine weiterführende Schule wechseln. Die Empfehlungen, in welcher Schulart sie am besten weiterlernen, müsse „durch eine bessere Diagnostik unterstützt werden“. Dabei sollten nur noch zwei Schularten angeboten werden: Sekundarschulen und Gymnasium. Die Hauptschule wollen die Erziehungswissenschaftler abschaffen. Gegen die Einheitsschule wenden sie ein, dass sie das Auswahlrecht der Eltern unterlaufe.

Schüler mit Migrationshintergrund in der „Verkehrssprache Deutsch“ zu unterrichten, sei unerlässlich. Lehrer sollten darauf dringen, dass die Schüler in der Schule und Freizeit Deutsch sprechen. Bildungspolitische Maßnahmen müssten durch eine „konsequente selektive Einwanderungspolitik“ ergänzt werden.

Die Schulen sollen auch organisatorisch umgekrempelt werden: Sie müssten „weiterhin öffentlich finanziert, jedoch in privater Trägerschaft organisiert werden“. Lehrer sollen für guten Unterricht belohnt werden, entweder „symbolisch“, oder durch „leistungsbezogene Bezahlung“. Sie werden befristet eingestellt und können ihre „Lehrlizenz“ nur verlängern, wenn sie sich weiterbilden. Das setzt voraus, dass der Beamtenstatus für Lehrer abgeschafft wird. Das wäre ebenso richtig, wie eine leistungsabhängige Bezahlung der Lehrer, sagte Bildungsminister Olbertz. Er kritisierte allerdings „Widersprüche“ in den Empfehlungen: Wer eine weitgehende Entstaatlichung des Bildungswesens fordere, könne nicht gleichzeitig eine Kindergartenpflicht ab dem vierten Lebensjahr verlangen.

Auch die Privatisierung der Schulen lehnte Olbertz ebenso wie Zöllner vehement ab. Die Verantwortung für Bildung müsse beim Staat bleiben, gleichzeitig aber müsse und könne das staatliche Bildungswesen modernisiert werden. Priska Hinz kritisierte den Vorschlag, ein zweigliedriges Schulsystem mit Gymnasien und Sekundarschulen einzuführen. Wenn man den Schulen weitgehende Autonomie einräumen wolle, „müssen sie auch die Freiheit haben, sich zu Gemeinschaftsschulen zusammenzuschließen“.

Der GEW-Vorsitzende Thöne sprach sich gegen ein stärker leistungsorientiertes Berufsbild von Lehrern aus: „Individuelle Lehrleistungen zu messen ist ein Ding der Unmöglichkeit.“ Der Vorschlag laufe auf Lohnkürzungen hinaus. Auch Zöllner stellte sich vor die Lehrer: Wenn sie in ständiger Existenzangst lebten, würde das den Unterricht nicht verbessern.

Hochschulen

Den deutschen Hochschulen stellt das Gutachten ein vergleichsweise gutes Zeugnis aus. Die Unis der Zukunft sollen nach Ansicht der Experten im Wettbewerb konkurrieren – und die vormals homogene Hochschullandschaft hinter sich lassen. Sie bestimmen ihr eigenes Profil, haushalten wirtschaftlich und können international mithalten. Alle diese Forderungen seien in Deutschland „in der Grundphilosophie umgesetzt“, heißt es. Die Reform der Hochschulen sei der des Schulwesens voraus.

Handlungsbedarf sehen die Wissenschaftler vor allem beim Hochschulzugang. Noch immer würden Studierende nicht allein nach „intellektueller Eignung“ ausgewählt. Vielmehr würde ein „formales Berechtigungswesen“ – sprich: das Abitur – über den Unizugang bestimmen, das aber nicht immer etwas über die Fähigkeiten der Bewerber aussage. Das sei ein wichtiger Grund dafür, dass Deutschland im internationalen Vergleich zu wenig Akademiker hervorbringe.

Die Autoren schlagen vor, das Abitur als Zugangsvoraussetzung mehr als bisher durch Studieneignungstests zu ergänzen. Ein „Zentralinstitut für Zulassungstestentwicklung“ müsse jährlich neue Tests entwickeln, die sich von Fach zu Fach unterscheiden. Auch Nicht-Abiturienten sollten studieren dürfen. Ob sie einen Studienplatz erhalten, sollte nicht von ihrer Berufsausbildung abhängen, sondern von ihrem Testergebnis.

Der Vorsitzende des Deutschen Philologenverbandes, Heinz-Peter Meidinger, kritisierte, dies würde die hohen Studienabbruchquoten weiter in die Höhe treiben. Auch Zöllner warnte davor, das Abitur zu entwerten. Alle Studien hätten gezeigt, dass die Abiturnote der beste Indikator für den Studienerfolg sei. Die Vorschläge der Wissenschaftler könnten zu „Verhältnissen wie in Japan“ führen. Dort entscheiden Tests darüber, an welcher Hochschule Studienbewerber einen Platz bekommen. Die Schule würde dort für viele Jugendliche keine Rolle mehr spielen, sagte Zöllner. Wichtig seien nur noch die Vorbereitungskurse auf die Uni.

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