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Spielen und üben. Die Logopädin Carola Schneider-Tobis mit ihren Therapiehunden Annuk (schwarzes Fell) und Clea.

© Fabiane Zander Repetto

Logopädie mit Therapiehunden: Sprachlehrer auf vier Pfoten

Die Logopädin Carola Schneider-Tobis besitzt eine der wenigen Praxen in Berlin, die mit speziell ausgebildeten Therapiebegleithunden arbeiten. Geistig und körperlich behinderte junge Patienten entdecken Wörte und kommunizieren.

Und dann tritt die Elfjährige zu. Nicht wirklich hart, aber fest genug. So fest, dass ihr Ziel völlig die Bodenhaftung verliert. Es rotiert regelrecht durch die Luft, zwei, drei Sekunden lang, dann verschwindet es in der Schnauze einer Labradorhündin. Na bitte, Clea weiß doch, wie man ein Leckerli bekommt, das auf eine Wippe liegt. Wobei, perfekt ist sie nicht.

Zweiter Versuch, das nächste Leckerli liegt bereit, Clea tritt, aber sie trifft nur den Teppich. Ein Fehltritt zu viel, den kann man sich nicht leisten, wenn zwei Meter weiter Annuk das Geschehen beobachtet. Blitzschnell verschwindet das Leckerli wieder in einer Hundeschnauze, diesmal freilich in der einer Mischung aus Golden Doodle und Labrador.

Clea und Annuk können noch viel mehr. Sie bellen auf Kommando, laufen durch Beine, öffnen Türen, rollen sich um die eigene Achse, sie drehen sich im Kreis. Man darf sie am Schwanz ziehen, den Kopf auf ihren Körper legen, man darf sehr viel mit ihnen anstellen.

Zwei gutmütige Therapiebegleithunde die keine Ahnung von ihrer Bedeutung haben. Jetzt liegen sie einfach da, auf dem Boden in der Praxis der Logopädin Carola Schneider-Tobis in Zehlendorf. Eine Praxis? Eher eine Wohlfühlzone für Kinder. Links ist ein kompletter Kaufladen aufgebaut, mit Zitronen, Birnen, Trauben, Registrierkasse. Ein paar Meter weiter steht ein Bauernhof mit Ställen, Wohnhaus, Tieren.

An der Wand, überm Schreibtisch, hängt das Foto eines lächelnden Mädchens mit Downsyndrom. Das ist die Zone von Carola Schneider-Tobis, Sprachtherapeutin mit psychotherapeutischen Zusatzkenntnissen, spezialisiert auf Patienten mit körperlicher und/oder geistiger Behinderung. Spezialisiert auf die Arbeit mit Therapiebegleithunden. Ohne sie hätte die 55-Jährige vielen Patienten nicht so wirksam helfen können.

Annuk und Clea haben dafür gesorgt, das ein kleines Kind mit Downsyndrom „Ball“ und „Tisch“ sagen kann. Als es in die Praxis kam, hatte es nur gelallt. In einem anderen Fall kam ein Kind mit Mutismus – es spricht also nur mit sehr ausgewählten Menschen – in die Praxis. Dort traf es auf Annuk und Clea. Irgendwann ging es allein in einen Laden, um für die Hunde Futter zu kaufen. Und dank Annuk und Clea muss jetzt ein weiteres Kind, das Nahrung nahezu verweigerte, nicht mehr über eine Magensonde ernährt werden. Es isst selbstständig und bereitwillig.

Nur ein Ausschnitt der Erfolgsliste.

„Tiergestützte Arbeit ist phänomenal“, sagt Carola Schneider-Tobis. Sie ist eine der ganz wenigen Therapeuten in Berlin, die mit Therapiebegleithunden arbeiten. „Hunde sind Motivatoren“, sagt sie. „Sie sind die Brücke, die dabei hilft, die Kinder überhaupt zum Sprechen zu bringen.“ Denn darum geht es ja, Kommunikation herzustellen, Kontaktaufnahme. „Das Ziel der Therapie ist optimal erreicht“, sagt die 55-Jährige, „wenn die Kinder sich auf eine Weise mitteilen können, dass man sie versteht.“ Die Tiere sind ja nicht Hauptdarsteller eines Kuschelzoos, sie sind Teil einer logopädischen Arbeit. „Die Hunde reagieren auf Sprache. Die Kinder erfahren erstmals: Ich kann selber bestimmen. Die Hunde reagieren auf meine Worte.“ Man muss nur reden.

Aus "A" und "Hm" wird allmählich "Arm"

Spielen und üben. Die Logopädin Carola Schneider-Tobis mit ihren Therapiehunden Annuk (schwarzes Fell) und Clea.
Spielen und üben. Die Logopädin Carola Schneider-Tobis mit ihren Therapiehunden Annuk (schwarzes Fell) und Clea.

© Fabiane Zander Repetto

Eine Entwicklung in vielen kleinen, mühsamen Schritten. Wie bei dem Mädchen mit Downsyndrom. Es kam in die Praxis und redete so gut wie nichts. Wie ändere ich das? Wie können die Hunde helfen? Die Basisfragen für Schneider-Tobis am Anfang. Clea half, indem sie das Maul weit aufriss. Die Logopädin fotografierte sie dabei. Sie malte ein großes „A“ unter das Foto. Dann zeigte sie dem Mädchen die aufgerissene Hundeschnauze und animierte ihre kleine Patientin, nachzusprechen: „Aaaaaaah“. Die Botschaft: Das macht Clea auch gerade.

Der nächste Laut: „hm“. Clea hat ein Leckerli bekommen, es hat ihr geschmeckt, es ist Genuss. Das Mädchen hatte die Hündin dabei beobachtet, jetzt kreiste die Logopädin mit der flachen Hand über ihrem Bauch. „Hm“, schnurrte sie, es hat geschmeckt, lautete die Übersetzung. „Hm“, sagte irgendwann auch das Mädchen.

Schon zwei Laute, „A“ und „Hm“. „Die beiden Laute ziehen wir allmählich zusammen, zu einem „Arm“, sagt Schneider-Tobis. Zwei Stunden dauerte es, dann hatte das Mädchen „Arm“ hörbar formuliert. „So funktioniert’s mit vielen Worten.“ Aber sie hatte auch einen Jungen, der erst nach Monaten „Arm“ oder „Ohr“ sagte. Aber er sagte es.

Clea brachte sogar ein Kind dazu, wieder zu essen

So hatte Schneider-Tobis auch mit jenem Jungen geübt, der nur gelallt hatte. Irgendwann durfte er den Ball wegwerfen oder ihn verstecken, Clea brachte ihn zurück. Der Junge war begeistert. Und so entdeckte er langsam einzelne Worte. Wenn er jetzt Clea sieht, dann sagte er gerührt: „Ball.“

Herzergreifende Entwicklungen, keine Frage, aber nichts gegen Schneider-Tobis’ persönliches Highlight, ihren „schönsten Erfolg bei der Arbeit mit den Hunden“. Das war der Fall des Kindes mit der Magensonde. Es weigerte sich, zu essen, es wollte Nahrung nicht anfassen. Und so kam die Banane ins Spiel. Schneider-Tobis setzte Clea neben das Kind an den Schreibtisch, schälte eine Banane, zerdrückte sie und fütterte damit die Hündin. Die Eltern machten ein Foto von Clea, als sie die Banane verdrückte. Zu Hause legten sie eine Banane vor das Kind, dann zeigten sie ihm das Foto. „Schau mal, das würde Clea jetzt auch essen“, sagten sie. Nach kurzer Zeit klappte es: Das Kind nahm die Banane und aß sie. „Inzwischen“, sagt Schneider-Tobis, „braucht es keine Sonde mehr.“

Bananen? Für einen Hund? Ach, sagt die Logopädin, „Clea isst sogar Gummibärchen“. Seit neun Jahren arbeitet sie mit ihr, vor drei Jahren kam Annuk dazu. Eigentlich war Clea ja ein normaler Familienhund. Nur durch Zufall registrierte Schneider-Tobis, dass ihre Patienten auf den Hund reagierten. Da war Clea zwei Jahre alt. Die Logopädin ließ Clea zur Therapiebegleithündin ausbilden, sie selber lernte bei einem Lehrgang, wie man mit solchen Tieren arbeitet.

Die setzen mit ihrer eigenen Taktik Grenzen. Manchmal schauen Kinder, was passiert, wenn sie die Hunde kneifen. Gar nichts passiert bei Clea, die reagiert gar nicht. Und weil das schnell langweilig wird, lassen die Kinder sie in Ruhe. Annuk dagegen geht einfach. „Für Kinder ist das wie eine Bestrafung.“

Auch Schneider-Tobis werden Grenzen gesetzt, von Menschen – in einem Fall, der sie besonders umtreibt, von Eltern. Die tauchten mit einem Mädchen auf, zwei Jahre alt, stumm. Das Kind spricht nicht. Es spricht einfach nicht. Die Therapeutin steht vor der Frage: Ist es Autismus? Ist es eine geistige Behinderung? Oder was genau ist es? Sie versucht, mit Übungen und Ritualen Antworten zu finden. Sie hätte schneller Klarheit, wenn sie Clea und Annuk einsetzen könnte. „Aber leider“, sagt Schneider-Tobis, „verbieten das die Eltern.“ Die Eltern sind Muslime. „Aus religiösen Gründen darf der Hund das Kind nicht berühren.“

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