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Gesundheit: Macht der Intuition

Forscher zeigen: Bei Entscheidungen ist der Bauch dem Verstand oft überlegen

Georgios Dontas, Chef der Archäologischen Gesellschaft in Athen, hatte ein mulmiges Gefühl. Er wusste nicht so recht.

Irgendetwas stimmte nicht.

Das Getty Museum in Los Angeles hatte die angeblich antike Statue 14 Monate lang akribisch geprüft, hatte sie durchleuchtet mit einem Elektronenmikroskop, war ihr mit High-Tech-Geräten auf den Marmorleib gerückt. Eindeutiger Schluss: Das Kunstwerk ist echt. Und doch, als der erfahrene Archäologe Dontas die über zwei Meter große Plastik das erste Mal sah, überfiel ihn auf Anhieb „das Gefühl, als sei eine Glasscheibe zwischen mir und dem Werk“.

Andere Kunstexperten meldeten ebenfalls spontan Zweifel an. Einer meinte, die Fingernägel seien seltsam, ein anderer – der ehemalige Direktor des Metropolitan Museum of Art in New York – empfand die griechische Statue als „frisch“. Nicht, dass er sein Unbehagen genau begründen konnte. Er fühlte nur, dass etwas faul war.

Und hatte Recht. Als man der Sache noch einmal auf den Grund ging, stellte sich die Statue, für die der Kunsthändler knapp zehn Millionen Dollar verlangte, als Fälschung heraus. Die monatelangen Untersuchungen erwiesen sich als wertlos – richtig dagegen lag eine Hand voll Kunstkenner, die in Sekundenschnelle zu einem treffsicheren Urteil gekommen war. Und womit? Mit ihrem Bauchgefühl, ihrem Gespür, ihrer Intuition.

„Alles, was wirklich zählt, ist Intuition“, sagte Einstein. Aber was ist das eigentlich, Intuition? Intuition, das ist „die Macht des Denkens ohne nachzudenken“, verkündet der US-Autor Malcolm Gladwell in seinem Buch „Blink“ (Wimpernschlag), das in den USA prompt auf Platz eins der Bestsellerliste landete und Ende des Monats auch bei uns erscheint.

In „Blink“ hat Gladwell nicht nur Geschichten wie die der gefälschten Statue gesammelt, sondern auch Studien, die allesamt zeigen: Nicht langes Nachdenken, sondern blitzschnelle Entscheidungen bestimmen unser Leben. Im Guten wie im Schlechten. In der Liebe wie in der Wirtschaft. Oft eilt der Bauch unserem Verstand voraus. „Don’t think – blink!“, lautet deshalb Gladwells Credo.

In einem Versuch der US-Psychologen Timothy Wilson und Jonathan Schooler sollten Personen ein Poster für ihre Wohnung aussuchen. Es zeigte sich: Diejenigen, die spontan entschieden, waren noch Wochen später zufriedener damit als eine Gruppe, von der man verlangt hatte, sie solle sorgfältig über ihre Entscheidung nachdenken und die Poster zunächst schriftlich bewerten.

Rückendeckung bekommt Autor Gladwell auch von einem Experiment des amerikanischen Neurologen Antonio Damasio. Damasio legte Probanden vier verschiedene Kartenstapel hin, von denen sie jeweils eine Karte nehmen sollten.

Die Karten zweier Stapel (A und B) warfen satte Gewinne ab. Bei den Karten der beiden anderen Stapel (C und D) fiel der Profit armselig aus. Der Haken: In den Stapeln, die zu hohen Gewinnen führten, lagen auch „Strafkarten“, die zu einer empfindlichen Geldbuße führten. Bei den beiden anderen Stapeln drohten zwar ebenfalls Strafkarten – sie fielen jedoch kleiner aus. Die Forscher hatten das Kartenspiel so angeordnet, dass es auf lange Sicht günstiger war, sich von den Stapeln C und D zu bedienen.

Bevor das Spiel begann, klebte der Neurologe noch ein Paar Elektroden an die Haut der Testpersonen, um ihre Hautleitfähigkeit zu messen, die immer dann steigt, wenn wir anfangen zu schwitzen – eine Art Lügendetektor.

Das Spiel konnte beginnen. Anfangs war keinem klar, welcher Stapel wie viel Gewinn abwarf. Doch schon bei der zehnten Karte kamen die Spieler ins Schwitzen: Sobald sie nach den Stapeln A oder B griffen, schlug der Lügendetektor Alarm.

Erstaunlich war, dass keine der Testpersonen zu diesem Zeitpunkt das Spiel durchschaute. Keiner wusste zu sagen, was es mit den Stapeln auf sich hat. Der Verstand tappte ahnungslos im Dunkeln, da schien die Haut – sprich: das Unbewusste, die Intuition – dem System bereits auf die Schliche gekommen zu sein. Erst nach der 50. Karte zog der Verstand nach, und einige äußerten den Eindruck, Stapel A und B seien „irgendwie riskant“.

Wie heißt es so schön? Sei vernünftig. Schlaf noch mal drüber. Bloß nicht auf die Schnelle entscheiden. Gefühle vernebeln den Verstand.

Wirklich? Manchmal ist es genau umgekehrt. Manchmal ist es unser Wissen, das uns den Verstand vernebelt, wie Gerd Gigerenzer, Direktor am Max-Planck- Institut für Bildungsforschung in Berlin, entdeckte. „Welche Stadt hat mehr Einwohner – San Diego oder San Antonio?“ Konfrontierte der Kognitionspsychologe amerikanischen Studenten mit dieser Frage, wussten zwei Drittel die Lösung: San Diego. Und wie viele deutsche Studenten, die nie von San Antonio gehört hatten, kannten die korrekte Antwort? Ganz genau, alle.

Die deutschen Studenten versagten erst, wenn Gigerenzer ihnen das Problem mit zwei deutschen Städten vorlegte: Hannover und Bielefeld. Plötzlich waren sie verunsichert, wussten nicht, was sie wählen sollten. Nun glänzten die Amerikaner: Da sie noch nie von Bielefeld gehört hatten, tippten sie auf Hannover. Ihr Instinkt sagte ihnen: Nimm einfach das, was du kennst – und traf den Nagel auf den Kopf.

Nimm, was du kennst. Iss die Nahrung, die dir vertraut ist. Lass dich auf die Menschen ein, die dir bekannt sind. Mit diesen und ähnlichen Weisheiten hantiert unsere Intuition. Im Laufe unserer Entwicklungsgeschichte gab es oft Situationen, in denen schnelle Schlüsse über Leben und Tod entschieden. So gab uns die Evolution ein paar Faustregeln („Heuristiken“) mit auf dem Weg – einen geistigen Werkzeugkasten.

Nun könnte man einwenden: Gut, Unwissen ist Macht, das lassen wir in der Theorie durchgehen. Aber kaum einer, der noch alle Tassen im Schrank hat, würde in der Praxis auf Nichtwisser, Amateure und Dilettanten setzen. Nicht, wenn es ernst wird. Sagen wir, wenn es um Geld geht. Zu Recht?

Nicht unbedingt, wie die beiden Psychologen Gustaf Törngren und Henry Montgomery kürzlich in einer Studie feststellten. Die Wissenschaftler baten 43 Finanzprofis sowie 56 blutige Börsenlaien, die Kursentwicklung einiger Aktien vorherzusagen. Das verblüffende Resultat: Die Amateure gaben bessere Tipps ab als die Analysten. Nur in einem Punkt waren die Profis den Laien überlegen – was ihre Überheblichkeit betraf. „Der Nutzen von Erfahrung und Wissen, über den die Experten ja angeblich verfügen, wird offensichtlich überschätzt“, lautet das Fazit der Forscher.

Klar, nicht immer steht Wissen unserer Intuition im Weg, im Gegenteil: Auch unser Bauchgefühl ist oft nur eine Form von Erfahrung, von Wissen, das wir im Laufe unseres Lebens angesammelt haben, wenn auch weitgehend unbewusst.

So brauchen Schachprofis nur einen flüchtigen Blick auf ein Schachbrett zu werfen, um die Figuren aus dem Gedächtnis aufstellen zu können. Das gelingt ihnen aber nur, wenn es sich um eine sinnvolle Konfiguration handelt. Stehen die Figuren wahllos auf dem Brett, bricht ihre blitzschnelle Wahrnehmungsfähigkeit zusammen – nun sie sind auch nicht besser als Anfänger.

Je mehr wir eine Sache üben, desto mehr werden unsere Hirnstrukturen automatisiert. Die Folge: Irgendwann brauchen wir nicht mehr lange nachzudenken, um zu einem sicheren Urteil zu gelangen.

In einem Versuch zeigten Psychologen der Harvard-Universität Studenten die Video-Aufzeichnungen diverser Hochschullehrer. Die Studenten sollten zu einer Einschätzung der Persönlichkeit des Professors kommen – als wie sicher, energisch und freundlich empfanden sie ihn? Die Dauer der Video-Ausschnitte betrug nur wenige Sekunden. Trotz der extremen Kürze schätzten die Testpersonen den Professor ganz ähnlich ein wie Studenten, die ein ganzes Semester in dessen Vorlesung verbracht hatten.

Selbstverständlich kann unsere Intuition auch in die Irre gehen. Sie war es, die uns Jahrtausende lang versichert hat, dass die Sonne um die Erde kreist. Gelegentlich kann etwas Nachdenken beim Denken eben doch ganz nützlich sein.

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