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Gesundheit: Maskeraden der Macht

Der Stand der Dinge (13): Das Selbstverständnis und die Perspektiven der Geschlechterforschung im 21. Jahrhundert

Günter Beckstein, bayrischer Innenminister, geht zum fränkischen Karneval gerne als Madame de Pompadour. Nun ist in diesen Tagen vieles, ja fast alles erlaubt. Als verkehrte Welt feiert der Karneval die Umkehr sozialer Hierarchien, den Wechsel von Erhöhung und Erniedrigung und die Zweideutigkeit von Werten und Bedeutungen. Für eine kurze Zeit darf der Bettler König, der Arme reich und der Mann Frau sein – und umgekehrt. So wirkt Beckstein im elfenbeinfarbenen Rokoko-Kleid mit Tüllspitzen, mit Perücke, rot geschminkten Lippen und kokett wedelndem Fächer wie geradewegs dem berühmten Gemälde der Madame de Pompadour von François Boucher entstiegen. Der Innenminister eines deutschen Bundeslandes verkörpert eine der berühmtesten Maitressen der europäischen Geschichte, eine ob ihrer Eleganz, Schönheit und Macht legendäre Dame, die trotz ihrer bürgerlichen Herkunft als Geliebte des französischen Königs Ludwig XV. höchste Privilegien erlangte und einen eigenen ästhetischen Stil kreierte, der als „style pompadour“ in die Kunstgeschichte einging.

Sicherlich könnte man Beckstein in der Maskerade der Pompadour als einen unschuldigen Karnevalsspaß auffassen, vielleicht auch als eigenwillig-bayrische Hommage an die deutsch-französische Freundschaft – und es dabei belassen. Wenn jedoch eine wesentliche Aufgabe der Geistes- und Kulturwissenschaften darin besteht, das, was in einer Gesellschaft als selbstverständlich gilt, zu hinterfragen, dann lohnt ein genauer Blick auf diese Szene. Aus der Perspektive der Geschlechterforschung ist es nämlich durchaus bemerkenswert, dass ein mächtiger Minister eine Verkleidung wählt, die ihn schon auf einer privaten Party außerhalb der Karnevalszeit in Bedrängnis bringen könnte, bei einem politischen Abendessen aber vollends diskreditieren würde.

Zeigt das Vergnügen, mit der sich ein Politiker – dessen Affinitäten zur weitgehend homosexuellen Transvestitenshow wahrlich begrenzt sind – als Pompadour inszeniert, und zeigt die Gelassenheit, mit der die Öffentlichkeit auf das karnevaleske Spiel reagiert, dass wir in einer Kultur des Spektakels, in einer Inszenierungsgesellschaft leben, in der Geschlechterrollen durchlässig geworden sind und Identitäten gewechselt werden können wie Kleider? Und wie steht es mit den Hierarchien und Bewertungen, die Attributen und Verhaltensweisen, die als männlich oder weiblich gelten, bis heute zugeordnet sind? Leben wir in einer Gesellschaft, die die Frage nach dem Geschlecht hinter sich gelassen hat? So wie die Sexualität zusehends durch Reproduktionstechnologien ersetzt wird und der Mensch im Zeichen neuester Kommunikatorin- und Informationstechnologien zu einem vermeintlich geschlechtslosen Cyborg mutiert, einem Zwitter zwischen Mensch und Maschine, zwischen Technik und lebendigem Organismus?

Demonstration des Konstrukts

Anstatt sich an Zukunftsprojektion zu beteiligen, führt uns die Geschlechterforschung zurück zur Maskerade, die sie zu analysieren erlaubt. Die Verkleidung eines Mannes als Frau unterläuft eine lange Zeit vertretene Vorstellung von Identität und Geschlecht, die man als Ausdrucksmodell bezeichnen könnte. Demnach wird das Verhalten als Frau oder als Mann auf einen vorgängigen Körper und eine damit verbundene „weibliche“ bzw. „männliche Natur“ zurückgeführt. Die Verkleidung fasziniert, weil sie das Erproben alternativer Lebensentwürfe zulässt und zugleich einen Riss, einen Bruch zwischen dem biologischen und dem sozio-kulturellen Geschlecht wahrnehmbar macht. Die gegengeschlechtliche Verkleidung führt vor, dass Geschlecht nicht etwas ist, was man hat, sondern was man tut. In Ablehnung essentialistischer und biologistischer Bestimmungen von Geschlecht und Identität entwickelt die Geschlechterforschung Maskerade zum prominenten Modell einer performativen Geschlechtsidentität. Weiblichkeit und Männlichkeit kommen so als Effekte von Inszenierungen und theatralen Alltagsdarbietungen in den Blick, die durch Handlungen, Sprechweisen, Gesten und Kleidungsstile erzeugt werden.

Die Geschlechterforschung geht von der Annahme aus, dass das Geschlecht – im Sinne des englischen gender – eine sozio-kulturelle Konstruktion sei, die vom biologischen Geschlecht – sex – unterschieden werden muss. Während gender ursprünglich nur auf das grammatische Geschlecht von Substantiven bezogen war – wie Genus im Deutschen – wurde der Begriff im Rahmen der Gender Studies auf das kulturelle Geschlecht und die Geschlechterverhältnisse ausgeweitet. Für den englischen Begriff gender gibt es keine adäquate deutsche Übersetzung, weshalb er trotz seiner Sperrigkeit gerne in deutschsprachigen Diskussionen verwendet wird. Damit wird zum einen angezeigt, dass zahlreiche Anstöße der Debatte aus dem US-amerikanischen Wissenschaftskontext stammen. Zum anderen durchbricht das Fremdwort das scheinbar naturwüchsige Kontinuum der Sprache und unterstreicht, dass es um Geschichtliches geht, das nur über den (Um-)Weg der Reflexion zu erfassen ist.

Als Initialzündung der heutigen Geschlechterforschung können die internationalen Frauenbewegungen der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts und die daraus hervorgegangene Frauenforschung gelten, wobei sich die Geschlechterforschung deutlich von der Frauenforschung der siebziger und achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts absetzt. Die feministische Frauenforschung wollte den ignorierten Anteil von Frauen in Geschichte und Gesellschaft herausarbeiten und postulierte dazu eine allen Frauen gemeinsame Erfahrung. Frauenforschung war weitgehend deckungsgleich mit Frauengeschichte und wurde von der Vorstellung dominiert, Frauen seien als das „andere Geschlecht“ (Simone de Beauvoir) schon immer Objekte oder gar Opfer einer von Männern beherrschten Gesellschaft.

Gegen die Polarisierung

Eben diese Annahmen verwirft die Geschlechterforschung, wie sie sich seit den achtziger Jahren entwickelt hat. Sie rückt gerade die Differenzen zwischen Frauen wie die Differenzen zwischen Männern und den Zusammenhang von Geschlecht und anderen hierarchisierenden Kategorien wie Rasse, Ethnie oder Klasse ins Zentrum ihres Interesses. Der Geschlechterforschung geht es nicht länger um „die Frau“ oder „den Mann“, sondern um die Untersuchung kultureller Repräsentationen und Interpretationen und darum, wie diese im Rückgriff auf biologische Phänomene naturalisiert werden. Gender als Analysekategorie kommt ohne die fragwürdige Opposition zwischen Männern und Frauen aus und erfasst die Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern, ohne am problematischen Postulat einer gemeinsamen weiblichen (bzw. männlichen) Erfahrung oder einer universellen Unterdrückung von Frauen festzuhalten. Ein gewichtiger Vorteil der Kategorie gender ist dabei, dass sie beide Geschlechter wie auch die Übergänge zwischen den Geschlechtern einschließt. Statt von Oppositionen – wie Männlich-Weiblich, Natur-Kultur, Körper-Geist – auszugehen, wird nach den Gründen, den Verfahren und Funktionsweisen solcher Oppositionsbildungen gefragt.

Der wissenschaftliche Neuansatz der Geschlechterforschung besteht darin, kulturelle Bedeutungsstiftung grundsätzlich als über die Geschlechterdifferenz organisiert zu denken. Gender wird so zur fundamentalen Analysekategorie, die es erlaubt, die gesellschaftliche Logik insgesamt zu verstehen. Während Sigmund Freud noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Devise ausgab: „Biologie ist Schicksal“, betont die Geschlechterforschung des beginnenden 21. Jahrhunderts den je spezifischen kulturellen und historischen Rahmen der Relation von sex und gender. Sie stellt die Frage nach der Konstruiertheit und geschichtlichen Veränderbarkeit von Geschlecht. Dabei unterstreicht sie, dass auch der als natürlich angenommene Körper eine Geschichte hat. Begriffe wie Natur, Körper oder biologisches Geschlecht sind keine ahistorischen Größen, sondern immer bereits im Kulturraum einer Gesellschaft definiert. Geschlechterbeziehungen sind also weder rückführbar auf anthropologische Gegebenheiten noch sind sie Ausdruck einer statischen Ordnung zwischen den Geschlechtern, sondern sie repräsentieren das kulturelle Regelsystem selbst.

Damit hat die Geschlechterforschung wesentlich zur Revision des Wissenschaftsverständnisses und der Wissenschaftspraxis seit den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts beigetragen und neue Arbeitsfelder erschlossen, die nur inter- bzw. transdisziplinär zu untersuchen sind. Genderforschung stellt keine neue Disziplin dar, sondern eher eine theoretische Indisziplin, die vorhandene disziplinäre Grenzziehungen und Taxonomien durchquert. Dies zeigt sich auch an den Themenkomplexen, die sie in Angriff nimmt: Fragen des Körpers, der Sexualität, des Wissens, der Macht oder der Identität stehen ebenso auf ihrer Agenda wie Fragen der Gewalt und der politischen Repräsentation.

In diesem Zusammenhang erscheint Becksteins Verkleidung paradoxerweise als Bestätigung der Geschlechterordnung und ihrer heterosexuellen Matrix. Denn Beckstein führt keine Überschreitung bestehender Normen von Geschlecht oder Sexualität vor, sondern ein erlaubtes Spiel, das durch die begrenzte Erschütterung etablierter Regeln diese nur desto nachhaltiger affirmiert. Zur Grenzüberschreitung wird ein solches Verhalten erst dann, wenn es in anderen Kontexten politischer Macht oder gesellschaftlicher Konvention auftaucht, wie etwa dem alltäglichen politischen Theater.

Angesichts der aktuellen Rebiologisierung wissenschaftlicher wie gesellschaftlicher Diskurse ist die Einsicht der Gender Studies in die Struktur und Funktionsweise hierarchisierter Oppositionen notwendig. Der Erfolg und die spekulativen Zukunftsszenarien der Biowissenschaften haben zu einer Zunahme und wachsenden Attraktivität biologistischer Erklärungen geführt. Hier ist in ganz neuer Weise eine Verknüpfung von Natur- und Geisteswissenschaften gefragt, die die wechselseitigen Fallen eines biologischen oder genetischen Determinismus ebenso vermeidet wie die eines völlig entgrenzten Konstruktivismus.

Logik des „und“

Statt der Illusion klarer und eindeutiger Trennungen, statt einer Logik des „entweder-oder“ vertritt die Geschlechterforschung eine Logik des „und“, des Übergangs und der Vermischung. Wer glaubt, damit werde einem beliebigen Relativismus des „anything goes“ das Wort geredet, täuscht sich gründlich, da es gerade darum geht, Muster und Dynamiken von Hierarchiebildungen zu verstehen, die nicht nur die soziale Interaktion in einer Gemeinschaft und die Struktur einer Gesellschaft prägen, sondern etwa auch aktuelle Fragen des Umgangs der westlichen Welt mit anderen Kulturen und Werten.

Die Autorin ist Professorin für Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin und Mitglied der Jungen Akademie an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.

Doris Kolesch

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