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Gesundheit: Medikamentenforschung: Die Bibliothek im Kühlschrank

Die Bibliothek befindet sich im Kühlschrank. Minus fünf, minus 20 oder minus 80 Grad zeigen die Thermometer zwischen den Regalreihen.

Die Bibliothek befindet sich im Kühlschrank. Minus fünf, minus 20 oder minus 80 Grad zeigen die Thermometer zwischen den Regalreihen. Zum Lesen wäre das zu kalt, aber die "Bibliothek" des Frankfurter Pharmakonzerns Aventis enthält keine Bücher, sondern chemische Substanzen. Sie bilden die Basis für künftige Medikamente. 700 000 verschiedene Wirkstoffe birgt die eisige Schatztruhe im Industriepark Höchst. Haben die Forscher eine Idee für ein neues Medikament, beginnt in der Bibliothek die Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen.

Beispiel Arthrose: Ein Forscherteam findet heraus, dass ein bestimmtes Enzym die Knorpel in den Gelenken zerstört. Aventis will ein Medikament entwickeln, das gezielt das falsch arbeitende Enzym blockiert. Aber welcher Stoff könnte das leisten? "Anfangs kommen bis zu 400 000 Substanzen in Frage", sagt Irvin Winkler, Leiter der Abteilung Screening. "Screening" nennen die Forscher eine erste Reihenuntersuchung, die aus vielen Substanzen die Erfolg versprechendsten herausfindet. "Von der Idee bis zum fertigen Arzneimittel dauert es zwischen neun und zwölf Jahre", sagt Winkler, "für das Screening brauchen wir sechs Wochen."

Erster Schritt ist der Gang in die "Apotheke", wie die Wirkstoffbibliothek auch genannt wird. Neben den 700 000 gekühlten flüssigen Wirkstoffen gehören zu ihr noch 300 000 Feststoffe, die - meist in Pulverform - Glas für Glas in riesigen Rollschränken aufgereiht stehen. Damit ist die Aventis-Wirkstoffbibliothek die größte Deutschlands. "Aber die Größe ist nicht entscheidend", sagt "Chef-Bibliothekar" Norbert Krass. "Wichtig ist nicht, viele Substanzen zu haben, sondern viele verschiedene. Am wichtigsten aber ist es, schnell die richtigen zu finden."

Das leistet ein viereinhalb Tonnen schwerer und fünf Millionen Mark teurer Roboter. Er fährt zwischen den Regalreihen hin und her und sammelt die Substanzen für das Screening ein. Die Flüssigkeiten lagern in handgroßen Plastikplatten, die mit kleinen Bohrlöchern versehen sind.

Wegen des technischen Fortschritts beim Screening reicht für die Tests immer weniger Flüssigkeit. Bis vor wenigen Jahren bot jede Platte nur Platz für 96 Löcher. Zur Zeit haben die meisten Platten 384 Bohrungen, "aber wir ersetzen sie durch Platten mit 1536 Löchern", erklärt Krass. Die Bohrungen sind so winzig, dass man sie mit bloßem Auge kaum noch sehen kann. In sie passt gerade der Bruchteil eines Tropfens hinein.

"Ein tausendstel Fingerhut" genügt für das Screening, erklärt Winkler. Auch hier läuft inzwischen fast alles automatisch. Ein Roboter vermischt die Flüssigkeiten von jeweils drei verschiedenen Platten: Eine enthält - x-Mal vervielfältigt - das fehlerhafte Molekül, das für die Krankheit ursächlich ist. Eine zweite birgt die in Frage kommenden Wirkstoffe. Die dritte enthält eine Markierungssubstanz, die sich verfärbt, wenn die Stoffe eins und zwei "irgendetwas miteinander machen", wie Winkler sagt.

Die Mixtur kommt eine halbe Stunde lang in einen 37 Grad warmen Brutkasten. Wenn der Roboter die Platte wieder zu Tage fördert, sind manche Löcher rot verfärbt. Was hell bleibt, scheidet aus. So arbeiten sich die Maschinen Platte für Platte, Bohrung für Bohrung durch die unendlichen Reihen der möglichen Wirkstoffe.

Doch auch wenn das Screening die Zahl der möglichen Angriffspunkte schließlich auf eine zweistellige Zahl reduziert hat, sind die Forscher dem gewünschten Medikament noch nicht viel näher. "Die Arbeit beginnt dann erst", sagt Aventis-Forschungsleiter Günther Wess. Jetzt müssen sich die Fachleute anschauen, ob und wie aus den Wässerchen, die mit dem für die Krankheit ursächlichen Molekül reagiert haben, ein Medikament werden kann.

Sandra Trauner

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