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Gesundheit: Meme: Die Gene der Gesellschaft

Irgendwo haben wir die Melodie von "Mr. Sandman" gehört.

Irgendwo haben wir die Melodie von "Mr. Sandman" gehört. Jemand hat sie gesummt, im Büro vielleicht, oder das Autoradio hat sie gespielt. Und jetzt werden wir die paar Takte nicht mehr los: "Mr. Sa-a-andman send me a dre-eam." Ständig gehen sie uns im Kopf herum, wir trällern sie vor uns hin und geben sie so an andere weiter. Dieser musikalische Ohrwurm ist hochinfektiös, er befällt uns in Windeseile und breitet sich mit Schallgeschwindigkeit aus. In der Sprache der Evolutionstheoretiker ist "Mr. Sandman" ein virusartiger Replikator - geboren, um sich in unseren Gehirnen zu vermehren. "Mr. Sandman" ist ein Mem - und damit für die Kultur und ihre Entwicklung in etwa das, was Gene für die Biologie sind.

Die Theorie der Meme entsprang vor einem Vierteljahrhundert dem Gehirn des Neo-Darwinisten Richard Dawkins, und seitdem hat sie mehr und mehr Aufmerksamkeit erregt. Dawkins prägte den Begriff in seinem furiosen Bestseller "Das egoistische Gen". In diesem Buch entwickelt der Biologe von der Universität Oxford die Idee, dass Lebewesen nur "Behälter" und "Überlebensmaschinen" für Gene sind. Das einzige Ziel der Erbmerkmale aber ist es, sich zu vermehren und von Generation zu Generation weitergereicht zu werden.

Dawkins hat seine These vom "egoistischen Gen" in erster Linie auf die Entwicklung des Lebens bezogen, nicht auf die der menschlichen Zivilisation. Als Entsprechung für das Gen prägte er, mehr nebenbei und am Schluss des Buches, den Begriff des "Mems". Dem Biologen ging es mit dieser launigen Wortneuschöpfung mehr darum zu zeigen, dass die kleinste Einheit der Evolution nicht unbedingt aus biochemischer Erbsubstanz bestehen muss. Wichtiger ist, dass Gene eine Form von Information sind, und dass sie wieder und wieder kopiert werden und dabei Varianten entstehen, von denen wiederum besonders erfolgreiche triumphieren. Das führt zur Entwicklung neuer Lebensformen, mithin zur Evolution.

Auch Meme bestehen aus Information, aber ihre "Überlebensbehälter" und "Kopiermaschinen" sind unsere Gehirne. Und Evolution, behauptet Dawkins, kann auch mit den immateriellen "ideellen" Memen erfolgen. Eine Geschichte, ein Wort, ein Lied, eine Technik, eine Theorie - sie alle werden von Kopf zu Kopf weitergetragen und weiterentwickelt - oder sterben aus.

Die Idee der Meme infizierte auch die Psychologin Susan Blackmore von der University of the West of England in Bristol. Sie schrieb ein Buch über Meme ("Die Macht der Meme", Spektrum Akademischer Verlag, 412 Seiten, 49 Mark 80) und berichtet nun in der Zeitschrift "Scientific American" über die Macht der Meme. Blackmore ist damit zu ihrer Prophetin geworden: "Memetisch zu denken heißt, eine neue Weltsicht zu entwickeln. Wenn man es einmal begriffen hat, verwandelt dieses Denken alles. Aus der Sicht der Meme ist jeder Mensch eine Maschine, um mehr Meme zu produzieren."

Augenfällige Beispiele sind für Susan Blackmore "virusartige" Meme. Etwa Kettenbriefe oder E-mails. Sie enthalten Anweisungen zum Weiterverbreiten, verbunden mit Drohungen bei Nichtbefolgen und Versprechungen für den Fall der Folgsamkeit. Ähnlich sieht der Agnostiker Dawkins auch die Religionen: Von Zehntausenden kleiner Kulte mit charismatischen Führern haben nur wenige die Zeiten überdauert. Es sind laut Dawkins just jene, die "Kopier-mich"-Instruktionen enthielten, gekoppelt mit Drohungen und Heilsversprechen. Die Anhänger der Religion bezahlen dafür mit einem Teil ihres Einkommens, widmen ihr Leben der Verbreitung oder wenden große Energie auf, um Kultstätten zu errichten. Mitunter fallen dabei die Gene den Memen zum Opfer - etwa bei Priestern im Zölibat.

Die Religionen liefern sich untereinander einen Wettbewerb um die Aufmerksamkeit der Menschen. Dabei sind manche Drohungen und Verheißungen effektiver oder "virulenter" als andere. Lebenserfahrung und Skepsis auf der Seite der Menschen wiederum wirken als "Immunsystem" gegen das "Virus" der Religion. Aber natürlich sind Religionen mehr als nur geistige Viren, relativiert Susan Blackmore. Sie verschaffen uns auch Wohlbehagen und Lebenssinn. Und auf der anderen Seite sind die meisten Meme nicht virusartig, sondern der Stoff, aus dem unser ganz normaler Alltag ist: Sprache, wirtschaftliche und politische Institutionen, Erziehung, Wissenschaft und Technik - alle bestehen aus Memen oder Zusammenballungen von ihnen. Denn sie alle werden von Person zu Person kopiert und versuchen, im begrenzten Ökosystem menschlicher Gedanken und Kulturen zu überleben.

Irgendwann in der Geschichte der Menschheit muss es passiert sein, spekuliert die Psychologin. Vielleicht vor etwa zweieinhalb Millionen Jahren. Damals begann der Mensch zu entdecken, wie nützlich der Nachahmungstrieb für sein Überleben sein kann. Etwa, indem er von anderen abkupferte und das Gelernte von Generation zu Generation tradierte. So lernte er, das Feuer zu zähmen, Waffen zu schmieden und mit solchen Fertigkeiten seine Überlebenschancen zu erhöhen. Das war die Geburtsstunde der Meme. Denn nun begannen sie, uns als Kopiermaschine zu benutzen. Und fortan wurden die Menschen von zwei Arten von Replikatoren geformt - von den Genen in den Zellen und den Memen in den Köpfen. So wurden die Gehirne immer größer, und so kam der Mensch zur Sprache - alles ein Produkt der Imitation.

Aber wie reagierten die Gene auf Meme? Anders als diese, die sich in Windeseile ausbreiten, vermehren Gene sich vergleichsweise langsam. Meme können Eintagsfliegen sein, Gene setzen auf Langzeitstrategien. Und doch kamen beide Seiten zusammen und einigten sich auf eine Art gemeinsame Evolution. Fortan pflanzten sich vor allem jene Mem-Träger fort, die besonders gute Imitatoren waren. Heutzutage kann man solche Menschen als Vorbilder oder "Trendsetter" bezeichnen, Menschen mit hohem sozialen Status und dementsprechend guten Vermehrungschancen.

So begannen die Meme, den Genen allmählich ihren Willen aufzuzwingen. Die Evolution und biologische Ausbreitung der besten Nachahmer sicherte auch das Überleben scheinbar nutzloser Meme - religiöser Rituale, bunter Kleider, dem Vermögen, zu singen, zu malen, zu tanzen ... Die Kultur war geboren. Auch die Sprache könnte ein typisches Teamwork aus erfolgreicher (Laut-)Nachahmung und der Auswahl der besten Nachahmer sein.

Die Memetik ist respektlos und verblüfft durch die scheinbar einfache Weise, in der sie kulturelle Prozesse erklärt. Und sie schlägt eine Brücke zwischen Biologie und Kultur, zwischen Materie und Geist. Aber die Memetik hat noch viel Widerstand zu überwinden, bis es sich eines Tages ungehindert in der wissenschaftlichen Welt vermehren kann. Der "Scientific American" hat Blackmores Artikel gleich Beiträge von drei Kritikern gegenübergestellt.

Da ist zum einen der Biologe Lee Alan Dugatkin von der Universität von Louisville. Er weist darauf hin, dass auch Tiere das Verhalten von Artgenossen imitieren. Demnach gibt es Meme vielleicht schon im Tierreich. Sie allein können also die Entwicklung der menschlichen Zivilisation nicht erklären. Auch der Anthropologe Robert Boyd (Universität von Kalifornien, Los Angeles) und der Biologe Peter Richerson (Universität von Kalifornien, Davis) kritisieren Blackmores Hang zur Vereinfachung. Sie liege vermutlich falsch, wenn sie denke, dass die kulturelle Evolution allein durch natürliche Auslese erklärt werden könne: "Stattdessen sollten Wissenschaftler Psychologie, Anthropologie und Linguistik miteinander kombinieren, um zu klären, welche vielfältigen Prozesse die Kultur formten."

Am schärfsten kritisiert Henry Plotkin, Psychologe am University College London. Die Kultur sei weit mehr als pure Nachahmung, ihr Inhalt sei der Austausch von Wissen und von Glaubens- oder Wertvorstellungen. Die Verbreitung von Ideen in der Gesellschaft sei ein langsamer, nicht vorhersehbarer und schwer zu messender Prozess, der nicht zu einer starren Theorie passe. "Kultur, als Einheit von menschlichem Gehirn und Geist betrachtet, ist das komplizierteste Phänomen auf Erden. Wir werden sie niemals verstehen, wenn wir es uns zu einfach machen." Nun ist es an den Memetikern, das Gegenteil zu belegen.

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