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Gesundheit: Mit Kindern zur Unendlichkeit

Ein Mann, in Sorgen vergraben, fährt mit seiner kleinen Tochter über eine einsame Landstraße im kanadischen Westen. Wie aus heiterem Himmel will die Kleine plötzlich wissen: "Woher kommen die Menschen?

Ein Mann, in Sorgen vergraben, fährt mit seiner kleinen Tochter über eine einsame Landstraße im kanadischen Westen. Wie aus heiterem Himmel will die Kleine plötzlich wissen: "Woher kommen die Menschen?" Der Mann ist überrumpelt. Er mimt den Allwissenden und antwortet: "Sie kommen weither, von Osten." Die fünfjährige Conny begleitet ihre Mutter beim Einkauf im Supermarkt und entdeckt im Kühlregal eine Schachtel Camembert. Die Käse-Verpackung zeigt das Rotkäppchen mit einem Korb, den es unter seinen Arm geklemmt hat. Im Korb liegt wieder so eine Käseschachtel, auf dem das Rotkäppchen prangt, in dessen Korb wiederum ein verpackter Camembert liegt - und so weiter. Conny wird schlagartig etwas klar: "So muss die Unendlichkeit aussehen", sagt sie zu ihrer überraschten Mutter.

Im ersten Beispiel, mit dem Douglas Couplands Buch "Life after God" beginnt, versucht ein Kind eine gewaltige Frage zu klären: Wo liegen unsere Ursprünge, wie fing alles an? In der zweiten Geschichte leistet die kleine Conny nicht minder Gewaltiges: Sie schafft sich ihren ganz eigenen Begriff von der Unendlichkeit. Dieser Intelligenz-Beweis stammt aus einem Ende Oktober erscheinenden Buch, mit dem die Bonner Philosophen Markus Melchers und Thomas Ebers dazu anstiften wollen, Fragen von Kindern nach Gott und dem Sinn unseres Daseins, nach Begriffen wie Freiheit und Freundschaft und nach Tod und Sterben ernst zu nehmen. Die Autoren ermuntern zum Zuhören, zum Hineinfragen in die kindliche Vorstellungswelt, zum Respekt vor unfertigen Kindergedanken, die bekanntlich viel unverbogener und ehrlicher sind als die Ansichten von Erwachsenen.

Kinder sind nach Ansicht von Ebers und Melchers nicht besser zum Philosophieren geeignet als Erwachsene: "Sie sind zwar einerseits unbelastet, doch dafür fehlt es ihnen an Erfahrung", sagt Ebers. Dennoch verfügen sprachfertige Kinder von einem Alter von etwa vier Jahren an über wesentliche Fähigkeiten, die das Suchen nach befriedigenden Antworten und einem Begriff von der Welt enorm erleichtern: Zunächst einmal fragen sie gerne nach, "manchmal so viel, dass es die Eltern nervt", wie Ebers einräumt. Zum Zweiten können sie noch über neue Eindrücke staunen, "und Philosophie beginnt mit neugierigem Staunen", fügt Markus Melchers hinzu. Drittens schließlich schaffen sie es nicht, sich selbst zu täuschen, wenn Gesehenes nicht zu bisherigen Erfahrungen passt.

Wissen ist Macht

In der Fabel über des Kaisers neue Kleider äußert nur ein Kind, der Kaiser sei ja nackt, während alle Erwachsenen sich feige vormachen lassen, des Kaisers Gewand sei bloß unsichtbar. Mutig ist das allerdings nicht: "Das Kind weiß gar nicht, dass Kaiser sich normalerweise dem Volk nie nackt zeigen, deshalb spricht es einfach aus, was es sieht", klärt Ebers auf. Bedauerlicherweise würgen Erwachsene die kindliche Fragelust allzu schnell ab. "Das ist nun einmal so", sagen sie. Oder: "Das tut man nicht." Schließlich auch: "Dafür bist du noch viel zu klein." Hinter diesen Ausflüchten kann neben verständlicher Überforderung im Augenblick auch Angst stecken. Nicht viele Erwachsene schaffen es, Wissenslücken einzugestehen, nicht einmal vor Kindern. Wissen ist Macht auf dieser Welt.

Diese bröckelt rasch, wenn ein Kind fragt: "Wenn Gott alles gemacht hat, wer hat dann Gott gemacht?" Es gehöre Mut dazu "zuzugeben und auszuhalten, dass auch ich als Erzieher etwas nicht weiß, ja, dass ich nicht einmal weiß, wo ich zusammen mit dem Kind nachschlagen soll", sagt Melchers. Und dieser Mutbedarf wachse mit dem Alter des Kindes. Ebers ergänzt, im Zweifel müssten Erwachsene sogar bereit sein, "liebgewonnene Meinungen einfach einmal über den Haufen zu werfen" und zumindest für einen Augenblick zu hinterfragen, wovon sie jahrelang überzeugt waren. In einer Gesellschaft, die noch die letzten scheinbar unproduktiven Zeitschnipsel im Produktionsprozess wegrationalisiert, die immer schneller und immer besinnungsloser ihren Effizienz-Zielen entgegenstolpert, stören Fragen nur, "sie hemmen den Lauf der Welt", sagt Melchers. Ebers sieht hier Parallelen zur Missachtung des Alters. "Wenn Kinder Fragen stellen und wenn alte Menschen ihre Erfahrungen einbringen möchten, entschleunigt beides das Leben gleichermaßen und wird deshalb nicht so geschätzt."

Die Kindersendung Sesamstraße würdigt eher den Nutzen des Fragens: "Wer, wie, was? Wieso, weshalb, warum? Wer nicht fragt bleibt dumm", singen die Kinder im Titellied. Was aber sollen Erziehende tun, um das philosophische Talent ihrer Kinder zu fördern? Zuerst einmal müssen sie keine Theorie-Kenntnisse haben. Vielmehr sollten sie fragende Kinder loben. "Sie müssen sich dem Kind sofort zuwenden, notfalls auch kurz vor der Sportschau, und nichts als blöd bezeichnen, was es äußert", sagt Melchers.

Beteiligen sich mehrere Kinder am Gedankenspiel, müssen alle zu Wort kommen, jedem Beitrag muss gleiches Gewicht beigemessen zu werden - was keine Fernseh-Talkrunde leistet. Abwertungen nach dem Muster "Was weißt du schon von Unendlichkeit!", sind fehl am Platz. Zu fragen wäre eher: Wie kommt das Kind darauf, dass eine Käse-Schachtel oder ein Flusslauf Unendliches an sich habe? Ebers erinnert sich an ein Kind, das die aus seiner Sicht "sehr traurige" und entlarvende Frage stellte: "Haben Erwachsene auch Freunde?" Schnell bei der Hand wäre nun die Antwort: "Aber sicher, mein Kind." Philosophischer wäre: "Findest du denn, Sie hätten keine?" Oder einfach: "Warum fragst du das?" Vielleicht spürt man dann erstmals, selber ohne echte Freunde zu sein.

Kinder müssten auch lernen sich zu orientieren, wenn die Eltern als Auskunftei mal ausfallen. "Selbstdenken ist dann gelernt, wenn Kinder beschließen, Vater oder Mutter nicht zu fragen, sondern selber eine Antwort zu suchen" fügt Melchers hinzu. Wirklich souverän verhalte sich, wer vorschlage, alles Nichtgewusste gemeinsam mit seinem fragenden Kind herauszufinden. Oder wer ihm dabei helfe, das allein zu schaffen.

Das eigene Weltbild malen

Melchers erinnert sich noch, wie seine Eltern ihn dazu anstifteten, den Pastor zu fragen, warum die Messe "für Kinder so langweilig" war. Die Antwort des Geistlichen, ein Fußballspiel dauere mit 90 Minuten noch länger als eine Messe und sei ja auch nicht langweilig, hat den damals Zehnjährigen indes nicht befriedigt; er fand sie "unerhört". Ein Anstoß für Melchers und Ebers, das Buch zu schreiben, war ihr Unmut darüber, wie willfährig sich viele Menschen Werte und Konsummuster von der Werbewirtschaft aufzwingen lassen und zu ihren eigenen machen. Je länger Kinder gewissermaßen unerwachsen und munter drauf los ihre Fragen stellen und so ihr eigenes Weltbild malen, so lange sind sie als viel beschworene mündige Bürger noch nicht verloren.

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