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Gesundheit: Mit Lügen leben

Keiner von uns möchte angeschwindelt werden – aber kleine Flunkereien sind nicht wegzudenken

Stellen Sie sich vor, die nächsten 24 Stunden dürften Sie nicht mehr lügen. Gar nicht. Sie dürften nur noch die Wahrheit sagen, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit. 24 Stunden lang.

Mit dem Kinofilm „Der Dummschwätzer“ hat Hollywood sich längst ausgemalt, was Ihnen in dieser Situation blühen würde: wütende Mitmenschen, Tränen, Verzweiflung, Ärger, Schlägereien, Chaos. Komödiant Jim Carrey spielt einen erfolgreichen Anwalt, aalglatt, Lügner aus Gewohnheit, der 24 Stunden lang nur noch die Wahrheit sagen kann. Es werden die 24 härtesten Stunden seines Lebens.

So wäre es wohl für jeden von uns. Denn die Lüge durchzieht unseren Alltag. Jeder Mensch lügt. Eine Studie der Universität von Südkalifornien kam sogar zum Ergebnis, dass der Mensch täglich etwa 200-mal flunkert.

Und das aus einem guten Grund, sagen Psychologen. Ohne die Lüge würde unsere Gesellschaft nicht funktionieren, sie wäre brutal. Wer bringt es schon übers Herz, einer Liebhaberin zu sagen, dass man ihr Essen, für das sie den ganzen Tag in der Küche gestanden hat, nicht über die Lippen bringt?

Schon als Kinder werden wir so mit einer doppelten Botschaft konfrontiert: Sag die Wahrheit – aber um Gottes willen, sag sie nicht um jeden Preis. „Wir verlangen von unseren Kindern, ehrlich zu sein“, bringt der Psychologe Robert S. Feldman von der Universität von Massachusetts in Amherst das Dilemma auf den Punkt. „Gleichzeitig bringen wir ihnen bei, dass es höflich ist, so zu tun, als gefalle uns ein Geschenk, das wir zum Geburtstag bekommen.“

In einer Studie an 242 Studenten stellte Feldman fest, dass 60 Prozent von ihnen bereits während einer nur zehnminütigen Konversation im Schnitt zwei bis drei Lügen von sich gaben. Dabei flunkerten die Frauen genauso oft wie die Männer – aber in einer anderen Art und Weise. „Frauen logen eher, um den anderen ein gutes Gefühl zu geben“, sagt Feldman. „Männer vor allem, um selbst gut wegzukommen.“

Für Evolutionsbiologen ist das keine große Überraschung. Es mag ja sehr nobel sein, sagen sie, immer die Wahrheit zu sagen, nie anzugeben, nie zu schmeicheln, auch dem Chef nicht, der uns höher in die Hierarchie bringen könnte – wahrscheinlich aber waren diejenigen unserer haarigen Vorfahren, die das Flunkern wohldosiert einzusetzen wussten, schlicht erfolgreicher beim Kampf ums Dasein. Und wir sind die Erben dieser kleinen Lügner.

Dabei kann nicht nur die Wahrheit grausam, sondern die Lüge auch gut sein. Ein schönes Beispiel dafür hat Jurek Becker mit seinem Roman „Jakob der Lügner“ gegeben. Es ist die Geschichte von Jakob Heym, einem jüdischen Mann im Warschauer Ghetto, der es nicht mit ansehen kann, wie die Menschen sich reihenweise umbringen. Kurzerhand erfindet Jakob eine Lüge, die Leben rettet: Indem er vorgibt, im Besitz eines Radios zu sein, und davon berichtet, dass die Russen und damit die Befreiung immer näher rücken, gibt er den Menschen neue Hoffnung, macht ihnen Mut, die Selbstmorde gehen zurück, der Lebenswille gewinnt Oberhand.

Lügen sind also nicht per se schlecht. Worauf es ankommt, ist vor allem die Dosierung. So bezeichnet der Wiener Psychologe Peter Stiegnitz, der als Begründer der Mentiologie gilt (der Lehre der Lüge), die Lüge als das „Salz des Lebens“: Ohne Salz schmeckt eine Suppe gar nicht. Aber noch viel ungenießbarer ist eine versalzene Suppe.

Die Gesellschaft toleriert, ja wünscht sich geradezu die kleinen Lügen des Alltags – eine nicht wirklich gemeinte Schmeichelei hier, ein Lächeln, das zwar nicht von Herzen kommt, aber herzlich wirkt, dort. Kritisch wird es erst dann, wenn der Schwindel einen bestimmten Schwellenwert überschreitet.

Diese Gefahr besteht zum Beispiel dann, wenn man nicht dauerhaft aufeinander angewiesen ist. Studien zeigen, dass wir umso hemmungsloser flunkern, je mehr wir davon überzeugt sind, den anderen nie wieder zu sehen. Psychologen bezeichnen das auch als „Tourismus-Effekt“: Restaurants hauen Touristen gern übers Ohr – die einzige Strafe, die droht, wäre schließlich die, dass die Touristen nicht wiederkommen – was sie in der Regel ohnehin nicht tun. Aus diesem Grund hat der Schwindel in kleinen, übersichtlichen Gruppen weniger Chancen als in großen, anonymen Gesellschaften.

Aber können wir den Schwindel nicht direkt erkennen und abstrafen? Steht jemandem eine Lüge nicht ins Gesicht geschrieben?

Tatsächlich sind nur wenige von uns in der Lage, beim Flunkern ein Pokerface zu behalten. Die Stimmte schwankt, die Versprecher nehmen zu, wir werden rot, zupfen uns am Ohr, berühren unser Gesicht, schauen weg.

Dennoch fällt es uns extrem schwer, eine Lüge am Gesicht abzulesen, wie Studien des Psychologen Paul Ekman von der Universität von Kalifornien in San Francisco zeigen. Sogar Polizisten, Richter und Psychiater merken nicht, ob sie belogen werden oder ob jemand die Wahrheit sagt. Nur eine Gruppe schnitt in Ekmans Studien gut ab: Mitarbeiter des amerikanischen „Secret Service“, die darauf getrimmt werden, noch kleinste und kürzeste Muskelzuckungen im Gesicht zu erkennen.

Beispiel: Bei einem echten Lächeln heben sich nicht nur unsere Mundwinkel, auch um unsere Augen bilden sich Fältchen, sie lächeln mit. Das lässt sich bewusst kaum kontrollieren – ein echtes Lächeln wird nämlich von ganz anderen Hirnbereichen gesteuert als ein maskenhaftes Margret-Thatcher-Grinsen. Offenbar gelingt es aber nur trainierten Spezialisten, die beiden auseinander zu halten.

Bei einer Gruppe von Menschen aber sind auch wir Laien im Stande, eine Lüge auf Anhieb zu erkennen – zumindest im Scherz: Wie merkt man, dass ein Politiker lügt? Antwort: Seine Lippen bewegen sich.

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