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Gesundheit: Mörderische Konkurrenz

Extremer Druck auf Chinas Schüler: Der Kampf um Studienplätze beginnt im Kindergarten

Morgens um halb sechs beginnt für You Jianing der Tag. Eine Stunde fährt die 14-jährige Pekingerin mit dem Bus von ihrem Zuhause, einer grauen Hochhausanlage außerhalb der vierten Ringstraße, zur Schule in die Stadt. Gemeinsam mit den Mitschülern putzt sie das Klassenzimmer, bereitet sie sich kurz auf den Stoff des Tages vor. Um 7 Uhr 30 ist Unterrichtsbeginn. Fünf Stunden am Morgen, vier bis fünf Stunden am Nachmittag. Mathe, Chinesisch, Physik, Chemie, Englisch. Abends um sechs oder sieben kommt You nach Hause. „Dann mache ich Hausaufgaben, aber nicht länger als drei Stunden“, erzählt sie. Um zehn oder elf fällt das Mädchen erschöpft ins Bett.

You Jianing ist keine Ausnahme. Weil Millionen chinesische Familien davon träumen, ihre Kinder auf eine Universität zu schicken, herrscht an den Schulen ein knallharter Leistungsdruck. „Um auf eine gute Uni zu kommen, müssen die Kinder auf eine gute Oberschule. Und um dorthin zu kommen, müssen sie auf eine gute Mittelschule, und vorher auf eine gute Grundschule“, sagt der Soziologe und Rektor der Pekinger Limai Schule, Fang Xuanchu. „Das ist ein böser Kreislauf.“

Der Wettkampf beginnt oft schon im Kindergarten, wenn die Kinder für die Aufnahmeprüfungen zur Grundschule getrimmt werden. Dreijährige treten dann an, um erste Rechenaufgaben zu vollführen und Gedichte aus der Tang-Zeit aufzusagen, der Blütezeit Chinas zwischen dem siebten und zehnten Jahrhundert. „300 Schriftzeichen vor dem Eintritt in die Grundschule“ heißt ein populäres Lernbuch für Eltern. Ein anderes Buch verspricht „Die besten Übungen für die Aufnahmeprüfungen an berühmten Grundschulen“.

An der Wand von Yous kleinem Zimmer hängen Karteikarten mit englischen Redewendungen. „Damit kann ich mir die Wörter besser merken“, erklärt das Mädchen. Neben dem Bett steht ein Schülerschreibtisch, am Fußende ihr Fahrrad. You hat ein hübsches, schmales Gesicht. Die Haare sind zum Pferdeschwanz zusammengebunden. Auch abends nach der Schule trägt sie die Schuluniform, einen blau-weißen Trainingsanzug.

Ende der siebziger Jahre führte Chinas Regierung die Ein-Kind-Politik ein. Eine Folge ist, dass sich heute in vielen Familien der Ehrgeiz und die Ambitionen auf den einzigen Sohn oder die einzige Tochter übertragen. Sie würde gerne mal auf der Fudan Universität in Schanghai studieren, erzählt You. Um dorthin zu kommen, muss sie am Ende ihrer Schulzeit mit Millionen anderen aus ihrem Jahrgang an einer Aufnahmeprüfung für eine Universität teilnehmen, dem gefürchteten „gao kao“. Die Auslese ist hart. Nur die Hälfte aller Prüflinge erhält einen Studienplatz. Um auf eine der Prestigeuniversitäten in Peking oder Schanghai zu gelangen, deren Abgänger die besten Arbeitsplätze in der Wirtschaft oder der Regierung ergattern, brauchen die Schüler Höchstpunktzahlen.

Der Druck ist groß. „Die Zukunft meines Lebens entscheidet sich an zwei Prüfungstagen und ich habe Angst, dass ich meine Eltern und Lehrer enttäusche“, sagt der Pekinger Schüler Xu Wencheng. Manche Schülerinnen verzögern mit Tabletten ihre Menstruation, um an den Prüfungstagen in Höchstform zu sein.

„Punkte, Punkte – das ist die Lebensquelle der Schüler“, lautet ein Spruch an Chinas Schulen. You kennt den Prüfungsdruck. Im kommenden Jahr wird sie an einem Test teilnehmen, der darüber entscheiden wird, auf welche Oberschule sie in Zukunft gehen wird. „Nummer 80 ist gut, aber auch Nummer vier oder Nummer zwei“, sagt You. Die Zahlen sind die Nummern der staatlich geförderten Schlüsselschulen in Peking. You weiß, dass nur die Besten kostenlos auf die Eliteschulen kommen, die als Eintrittsticket zu den guten Universitäten gelten. „520 Punkte brauche ich“, rechnet sie vor. Maximal werden bei den Prüfungen 570 Punkte vergeben. Wenn sie es nicht schafft? Dann müsse die Familie 30 000 Yuan zahlen, sagt Mutter Yang Hong. So viel koste die Aufnahmegebühr zu einer der besseren Pekinger Oberschulen. Umgerechnet 3000 Euro. Für viele Pekinger ist das mehr als ein Jahresgehalt.

Für You besteht das Leben deshalb aus Pauken. „Meistens reicht der Samstag nicht, um alle Hausaufgaben zu machen“, erzählt das Mädchen. Wenn sie Glück hat, bleiben ihr am Sonntag manchmal zwei, drei Stunden, um sich mit ihren Freundinnen zu treffen oder Badminton zu spielen. „Dann träumen wir davon, wie unsere Zukunft aussehen wird. Oder dass wir gemeinsam ein Reisebüro eröffnen“, erzählt You. Abends setzt sich You zum Entspannen vor den Fernseher. Doch auch da schaut sie meist Sendungen zum Englischlernen.

Inzwischen schlagen Ärzte und Lehrer Alarm, weil die Zahl der psychischen Erkrankungen und Störungen bei Schülern steigt. Viele haben erst auf der Universität Zeit für Liebschaften und können erst dort ihre Persönlichkeit zu entwickeln. Mit emotionalen Problemen können sie oft nur schwer umgehen. Im ersten Halbjahr 2005 begingen 15 Pekinger Studenten Selbstmord. Offiziellen Statistiken zufolge ist der Freitod die häufigste Todesursache für junge Chinesen im Alter zwischen 15 und 34. „Ich will mir nicht vorstellen, diese Art von Leben für Jahrzehnte weiterzuführen“, schrieb eine Studentin der Peking Universität im April in einem Abschiedsbrief, ehe sie sich vom Dach der Elitehochschule stürzte.

Harald Maass[Peking]

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