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Bruno-Marcel Mackert (r.) erläuert Patient Jens Schildknecht die Thrombektomie.

© Kai-Uwe Heinrich

Neue Technik hilft: Thema Schlaganfall: Experten beantworten heute Leserfragen

12.000 Berliner erleiden jedes Jahr einen Schlaganfall. Bestimmten Patienten kann eine neue Technik helfen. Am heutigen Montag beantworten Experten am Telefon die Fragen von Tagesspiegel-Lesern zum Thema.

An einem Dienstagnachmittag im März setzte sich Jens Schildknecht, promovierter Jurist im Ruhestand, zu Hause auf sein Sofa, telefonierte, eine SMS muss er auch noch gelesen haben. „Dann wurde alles sehr nebulös“, erinnert er sich. Als seine Frau vom Einkaufen nach Hause kam, fand sie ihren Ehemann auf dem Fußboden liegend. Die linke Seite seines Körpers war gelähmt, der Blick seiner Augen war leer: Schlaganfall. Sofort wurde er in die „Stroke Unit“ der Neurologie des Auguste-Viktoria-Klinikums in Schöneberg gebracht, und nach der Computertomografie stand fest: Der Blutpfropf in der mittleren Gehirnschlagader des Rentners, der den lebenswichtigen Nähr- und Sauerstoffen den Weg in eines seiner rechten Hirnareale versperrt, ist groß; der Infarkt hat schon eingesetzt. Die Lyse, eine Art medikamentöser Rohrreiniger für verstopfte Adern und die Standard-Behandlung gegen akute Schlaganfälle, kann man in diesem Stadium nicht mehr injizieren. Oft kann in derlei Situationen nicht verhindert werden, dass der betroffene Hirnbereich einfach abstirbt.

Doch Jens Schildknecht wird im Eiltempo in das Vivantes-Klinikum Neukölln gebracht und sofort auf den Behandlungstisch gelegt. Ein Neuro-Radiologe sticht die Arterie an seinem Becken an und schiebt einen langen dünnen Katheter hinein. Immer weiter nach oben. Zuerst durch die Aorta, von dort in eine Halsschlagader, bis zum Gehirn, wo die Spitze des Instruments schließlich in das Blutgerinnsel sticht. Ein ausfahrbarer winziger Drahtkorb umschließt den Pfropfen und zieht ihn den ganzen Weg wieder hinab aus dem Körper. Dann kann das Blut wieder fließen.

An einem Montagnachmittag Ende April sitzt Jens Schildknecht im Auguste-Viktoria-Klinikum. Er ist nach der Reha noch dageblieben, um von seinem Schlaganfall zu erzählen. Davon, wie gut es ihm schon wieder gehe. Problemlos gehe er wieder spazieren und sogar die vier Treppenstockwerke zu seiner Wohnung nehme er mühelos. Sein Schlaganfall vor wenigen Wochen erscheint so gut wie folgenlos. „Das ist der Thrombektomie zu verdanken, dem gezielten Katheter-Eingriff am Hirn“, sagt Bruno-Marcel Mackert, Neurologe und Chefarzt im Auguste-Viktoria-Klinikum. Er sitzt im weißen Kittel neben seinem Patienten, die aufgeschlagene Krankenakte liegt auf seinem Schoß.

Thrombektomie bei bestimmten Patienten erfolgreicher als Lyse

Wirklich neu sei die Methode gar nicht, räumt Mackert ein. Neu sei vielmehr, dass sie jetzt als überlegen gilt. So geht es aus mehreren Studien hervor, die vor ein paar Wochen erschienen sind und in der Fachwelt für viel Wirbel gesorgt haben: Fast doppelt so viele Patienten erlangten nach einem Testzeitraum ihre körperlichen und geistigen Funktionen zurück als jene der Kontrollgruppe, denen nur das lysierende Mittel gespritzt wurde. Das klingt eindeutig. Warum dauerte es dann so lange, bis diese große Evidenz belegt wurde, wo die Thrombektomie doch schon seit über zehn Jahren praktiziert wird? Der Chefarzt erklärt: Erstmals habe man in den neuen Studien konsequent die „richtigen“ Schlaganfall-Patienten ausgewählt. Anhand eines strikten Katalogs sei nämlich zu ermitteln, bei wem der Eingriff sinnvoll ist und bei wem nicht. Infrage kämen nur Patienten, bei denen eine der großen Arterien im Schädel durch einen Blutpfropf verschlossen ist, sodass der Katheter ohne Komplikationen hindurchgleiten kann. Außerdem dürften keine speziellen medizinischen Ausschlussgründe für die Behandlung vorliegen. Viel Zeit dürfe auch noch nicht vergangen sein, denn schon nach vier bis sechs Stunden nach Einsetzen der Symptome sei das betroffene Hirnareal nicht mehr zu retten. Nur weit weniger als ein Fünftel der Schlaganfall-Patienten kommen so für die Thrombektomie in Betracht.

Nach den positiven neuen Erkenntnissen sei die Motivation jetzt in Berlin sehr groß, Thrombektomie flächendeckend anzubieten, sagt Mackert. Doch er mahnt zur Vorsicht: „Die Therapie muss in der Hand von Spezialisten bleiben.“ Da es beim falschen Manövrieren in den wichtigsten Arterien des Körpers zu lebensgefährlichen Blutungen kommen könne, dürften die Eingriffe nur von Neuroradiologen mit Spezialausbildung durchgeführt werden. „Ich würde nicht empfehlen, dass alle 15 Berliner Stroke Units die Thrombektomie selber anbieten.“ Er plädiert für eine Netzwerkbildung: Schlaganfall-Patienten würden sofort in die nächstgelegene Stroke Unit eingeliefert und erst von dort aus bei Bedarf in ein Thrombektomie-Zentrum gebracht, das zum Berliner Schlaganfall-Netzwerk gehört. Von diesen sollte es nicht zu viele geben, meint Mackert. Denn eine ausreichende Behandlungsroutine könne nur entstehen, wenn eine kleine Zahl von Kliniken den Eingriff an einer möglichst großen Zahl von Patienten praktizieren könne. Im Moment geschieht das bereits an insgesamt neun Berliner Kliniken, darunter die Charité und das Vivantes Klinikum Neukölln. Wo genau die Thrombektomie nun ins Programm mitaufgenommen werden soll, darüber wird in den nächsten Monaten viel diskutiert werden. Ein Forum hierfür ist die Berliner Schlaganfall-Allianz, der Expertenverbund, in dem alle Stroke Units der Hauptstadt zusammengefasst sind. Bruno-Marcel Mackert sitzt selbst im Vorstand. Doch er weiß, dass da „natürlich auch konkurrierende wirtschaftliche Interessen im Spiel sind."

Eines steht aber jetzt schon fest: Der Eingriff kann für viele schwer betroffene Schlaganfallpatienten die Gefahr von Sprechstörungen, Lähmungen und lebenslanger Pflegebedürftigkeit eindämmen und damit die Chancen auf ein selbstbestimmtes Leben nach dem Schlaganfall erhöhen. So wie bei Jens Schildknecht. Nach dem Treffen steht der geduldig lächelnd vor den Pforten des Krankenhauses und wartet auf seinen Bus.

Anlässlich des „Tags des Schlaganfalls“ lädt die Berliner Schlaganfall-Allianz (BSA) Tagesspiegel-Leser ein, sich am heutigen Montag (11. Mai) telefonisch mit ihren Fragen an Experten zu wenden. Von 14–16 Uhr stehen Bruno-Marcel Mackert vom Vivantes-Auguste-Viktoria-Klinikum zur Verfügung (Tel. 450 560 600, für akutmedizinische Fragen), außerdem Stefan Hesse, Facharzt für Neurologie, Physikalische Medizin und Rehabilitation am Medical Park Humboldtmühle in Berlin (Tel. 450 560 608, für Fragen zur Rehabilitation) und Susanne Zöllner, Dipl.-Sozialpädagogin am Servicepunkt Schlaganfall der BSA (Tel. 450 560 613, für Fragen zur Nachsorge).

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