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Gesundheit: Nutzen fraglich, Schaden möglich

Was die Behandlung des Hörsturzes bringt

Wir werden uns künftig nicht mehr alles leisten können, was im Gesundheitswesen üblich ist. Experten schätzen den Anteil fragwürdiger Verfahren auf etwa die Hälfte aller gängigen Behandlungen. Typisches Beispiel für ein umstrittenes Verfahren ist die Infusionstherapie des Hörsturzes – aufwändig, von fraglicher Wirksamkeit und keineswegs risikolos. Die Nebenwirkungen reichen von chronischem Juckreiz über Herzbeschwerden bis zum Organversagen.

Der Internist Johannes Köbberling aus Wuppertal stieß bei der Begutachtung eines Todesfalls auf das Problem. Ein Hörsturzpatient hatte sich durch die Infusion infiziert und war an Blutvergiftung (Sepsis) gestorben. Der Richter sei entsetzt gewesen, dass solche eingreifenden, mit Risiken verbundenen Verfahren ohne klaren Wirksamkeitsnachweis angewandt werden, berichtet Köbberling.

Da verschiedene Ursachen für den Hörsturz vermutet werden, bekommen die Patienten unterschiedliche Substanzen über die Venen in die Blutbahn. Unter anderem durchblutungsfördernde, die Gefäße erweiternde, die Fließeigenschaften des Blutes verändernde oder auch entzündungshemmende Mittel. Jedenfalls in Deutschland. In Amerika, sonst oft als Vorbild geltend, sind solche Behandlungen nicht üblich. Aus dem amerikanischen Medizinhandbuch MSD-Manual erfährt man, es habe sich „keine Therapie als wirksam erwiesen“. Unter der Vorstellung einer Virusinfektion scheine „einzig die Anwendung von Kortison vernünftig“.

Die von Köbberling befragten Hochschullehrer der Hals-Nasen-Ohrenheilkunde sagten ihm, sie wüssten, dass sich nach einem Hörsturz in den meisten Fällen die Hörfähigkeit von selbst normalisiere und dass die üblichen Infusionstherapien kaum etwas brächten, aber sie wendeten sie trotzdem an. Dieses widersprüchliche Verhalten ließ der früher an der Universität Witten-Herdecke lehrende Internist von seiner Doktorandin Mona Fiege untersuchen. Eine Literaturanalyse ergab, dass in 19 methodisch sehr guten Studien „für keine Therapie bisher eine Wirksamkeit belegt oder ausreichend wahrscheinlich gemacht worden“ ist. An einer Befragung im Rahmen dieser Doktorarbeit beteiligten sich 107 von 174 besonders qualifizierten, nämlich zur Weiterbildung ihrer Kollegen berechtigten Hals-Nasen-Ohrenärzte des Kammerbezirks Nordrhein.

Diese Ärzte wenden insgesamt nicht weniger als 25 verschiedene Mittel und Methoden zur Behandlung des Hörsturzes an. 79 Prozent kennen zwar die Leitlinie ihrer Fachgesellschaft, aber weniger als 20 Prozent folgen diesen offiziellen Empfehlungen. Die meisten bauen auf die eigene Erfahrung. Aber auf die Frage, welche der zahlreichen Therapieformen die befragten HNO-Ärzte als unwirksam oder nicht ausreichend belegt ansehen, war die häufigste Antwort: „alle vorgeschlagenen Therapieformen.“

Trotzdem ist die Infusionsbehandlung noch weit verbreitet. Denn erstens wird von den Meinungsführern des Fachgebietes immer wieder dazu geraten, zweitens wünschen viele Patienten angesichts des als bedrohlich erlebten Hörverlusts einen solchen, über die notwendige Basistherapie hinausgehenden Behandlungsversuch und drittens fürchten die Ärzte offenbar juristische Folgen, wenn sie nicht das allgemein Übliche tun.

Der HNO-Chefarzt Rudolf Leuwer war bereit, dem Tagesspiegel Auskunft über seine Hörsturz-Therapie zu geben. Leuwer, Direktor der HNO-Klinik des Klinikums Krefeld und Mitglied der Leitlinien-Kommission seiner Fachgesellschaft, behandelt den Hörsturz meist in der Tagesklinik und nur selten vollstationär. Die Patienten bekommen Kortisonpräparate, als Infusion gibt es nur harmlose Kochsalzlösung. Bei kranken und alten Hörsturzpatienten wird die Infusion vorsichtshalber ganz vermieden.

Die Behandlungsempfehlungen der HNO-Ärzte sollen in diesem Jahr revidiert werden. In der jetzigen Version der Leitlinie wird noch HES (Hydroxyethylstärke zur Blutvolumenauffüllung) empfohlen. Wenn auch nicht vorbehaltlos, wegen Nebenwirkungen wie zum Beispiel einem nicht zu behandelnden Juckreiz. Leuwers Behandlung ist also ein Kompromiss zwischen den Empfehlungen der Fachgesellschaft und der Forderung, medizinisch nur das zu tun, was dem Patienten nachweislich mehr nützt als schadet.

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