zum Hauptinhalt

Gesundheit: Ohne Staat keine Politik?: Das Regieren nicht gewohnt

Fast zweitausend Jahre hindurch lebten die Juden ohne eigenen Staat. Als im Jahre 70 unserer Zeit die Römer nach einem halben Jahr Belagerung den Tempel in Jerusalem zerstörten, als drei Jahre später die letzten Widerstandskämpfer in der Festung von Masada am Toten Meer gemeinsam in den Tod gingen, begann für die Juden die Diaspora, das staatenlose Leben im Exil.

Fast zweitausend Jahre hindurch lebten die Juden ohne eigenen Staat. Als im Jahre 70 unserer Zeit die Römer nach einem halben Jahr Belagerung den Tempel in Jerusalem zerstörten, als drei Jahre später die letzten Widerstandskämpfer in der Festung von Masada am Toten Meer gemeinsam in den Tod gingen, begann für die Juden die Diaspora, das staatenlose Leben im Exil. Ohne Staat keine eigene Politik, ohne Politik keine politische Theorie, mag man meinen. Und tatsächlich: Bis heute werden vor allem die religiösen und mystischen Seiten des Judentums diskutiert. Dass es eine reiche Tradition jüdischen politischen Denkens gibt, wurde bisher wenig beachtet.

Bis zur Gründung des Staates Israel 1948 haben zwei Erfahrungen jüdisches Denken besonders geprägt: das Exil und die Hoffnung auf Erlösung im messianischen Zeitalter, erklärte Michael Walzer, Professor für Social Sciences an der Universität Princeton, auf einer Tagung des Einstein Forums in Potsdam. "Exil und Erlösung sind zwei entgegengesetzte Pole, die keinen mittleren Raum für die Politik zuzulassen scheinen", sagte Walzer. Im Exil war Politik der Zwang und die Unterdrückung durch einen feindlichen Staat. Erlösung aber bedeutet das Ende aller Unterdrückung und Zwänge, und damit auch das Ende aller Politik.

Exil und Erlösung

Dennoch gab es auch in den Zeiten der Diaspora jüdische Politik. Erziehung, Besteuerung, die Probleme des täglichen Zusammenlebens wurden von den jüdischen Gemeinden intern geregelt, erklärte Walzer. Gerade im Exil war das Bewusstsein, für die anderen Gemeindemitglieder verantwortlich zu sein, hoch. Doch die Solidarität in den Exilgemeinden betraf immer nur eine homogene jüdische Gemeinde. "Zweitausend Jahre lang hatten Juden keine Erfahrung darin, Nicht-Juden zu regieren", sagte Walzer. Erst heute, da Juden in einem souveränen Staat Verantwortung tragen, geht es wieder um die Fragen der großen Politik, treffen Juden Entscheidungen über Krieg und Frieden und regieren über Minderheiten im eigenen Staat. "Wir müssen heute den moralisch-politischen Raum zwischen Exil und Erlösung wiedergewinnen", meinte Walzer.

Zusammen mit Menachem Lorberbaum, Professor für jüdische Philosophie an der Universität Tel Aviv, und zwei weiteren Wissenschaftlern des Shalom Hartmann Instituts in Jerusalem hat Michael Walzer nun zum ersten Mal in größerem Umfang Originaltexte der jüdischen politischen Tradition zusammengetragen, kommentiert und in Form einer Anthologie herausgegeben. Vier Bände soll "The Jewish Political Tradition" umfassen. Der erste Band, in dem es um politische Autorität geht, stand im Mittelpunkt der Tagung des Einstein Forums. Neben dem wissenschaftlichen Interesse, die jüdisch politische Tradition auszugraben und zugänglich zu machen, haben die Bände auch ein politisches Ziel. Walzer und Lorberbaum, die sich beide in der israelischen Friedensbewegung engagieren, wollen zeigen, dass auch eine eigenständige, demokratische und offene Politik in Israel fest in der jüdischen Tradition verwurzelt sein kann.

Jüdisches politisches Denken ist so alt wie das Judentum selbst. Der Talmud, die Schriften von Rabbinern und Gelehrten gehören ebenso zu dieser politischen Tradition wie die Bibel selbst. Das Einstein Forum probierte zum ersten Mal eine ungewöhnliche Tagungsform aus, die die Veranstalter vom Hartmann Institut übernommen hatten: Statt des auf Konferenzen üblichen Vortragsmarathons diskutierten die Tagungsteilnehmer - von der Theologiestudentin aus Leipzig bis zum Philosophie-Dozenten aus Magdeburg - in kleinen Gruppen über Texte aus der Anthologie, die zuvor laut vorgelesen wurden. Eine ausgesprochen gelungene Tagungsform, die es jedem erlaubt, eigene Fragestellungen einzubringen.

In diesen Gesprächen ging es zum Beispiel um die politischen Seiten der "Gründungsgeschichte" des Judentums: Gott erzählt Moses die Gesetze der Thora auf dem Berg Sinai. Moses steigt hinab, versammelt das Volk Israel und verkündet ihnen Gottes Wort. Das Volk Israel stimmt zu: "Alles, was der Herr geredet hat, wollen wir tun", heißt es im zweiten Buch Moses. Lässt sich der Bund Gottes mit Israel also als ein Vertrag verstehen, dem beide Seiten zustimmen mussten? Hätte das Volk Israel den Bund auch ablehnen können - oder machte Gott den Israeliten "ein Angebot, das sie nicht ablehnen konnten"? Warum will der allmächtige Gott dann die Zustimmung des Volks haben?Bibelgeschichten und Gleichnisse wurden in den Diskussionsrunden lebendig.

Das Heilige verhandeln

Je weiter die Diskussionen fortschritten, desto deutlicher wurde, dass es kein einheitliches jüdisches Politkverständnis gibt. Propheten und Rabbiner, Könige und Priester stehen in der Tradition für unterschiedliche Auffassungen von Zusammenleben und Gesetzesverständnis. Propheten - Jesaja oder Jeremia zum Beispiel - haben in der Bibel eine direkte Verbindung zu Gott. Sie diskutieren nicht, sondern kritisieren die Könige, die weltlichen politischen Herrscher, indem sie Gottes nicht verhandelbares Wort verkünden. In den Geschichten der Propheten spiegelt sich daher ein eher theokratisches und autoritäres Politikverständnis wieder, erläuterte Micha Brumlik, Professor für Erziehungswissenschaften an der Johann-Wolfgang-Goethe Universität Frankfurt.

In der rabbinischen Tradition hingegen ist für Verkündigungen wenig Raum: Das Gesetz Gottes wurde am Berg Sinai den Menschen übergeben. Von da an gehört es zur Aufgabe der Rabbiner, es zu interpretieren und zu kommentieren. Auf Argumente kommt es in dieser Traditionslinie an, Kontroversen gehören wesentlich dazu, Autoritäten stehen immer wieder zur Debatte.

Eines hätten die verschiedenen politischen Konzeptionen allerdings gemeinsam, sagte Menachem Lorberbaum zum Abschluss der Tagung und zog das Fazit: "Selbst Politik, die eine säkulare Basis hat, muss stets das Heilige verhandeln." Dieser Grundgedanke führe aber nicht notwendig zu einer theokratischen oder autoritären Politik. Auch Israel solle staatliche und religiöse Institutionen trennen und den religiösen Pluralismus fördern. Denn das, so Lorberbaum, sei die beste Art, das Heilige zu verhandeln.

Sibylle Salewski

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false