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Gesundheit: Operation „Ausmerzer“

In der DDR war die NS-„Euthanasie“ tabu – die Erforschung der Stasi-Akten erhellt die Gründe

Von Matthias Schlegel

Im Januar 2004 hat die Staatsanwaltschaft Gera Anklage gegen die inzwischen 88-jährige Jenaer Medizinprofessorin Rosemarie Albrecht erhoben. Sie soll zwischen 1940 und 1942 als Ärztin in den damaligen thüringischen Landesheilanstalten Stadtroda an „Euthanasie“-Verbrechen beteiligt gewesen sein. 159 behinderte und kranke Menschen starben nach Erkenntnissen der Ermittler während Albrechts Dienstzeit in dem Krankenhaus.

Schon vor knapp 40 Jahren hätte es zu einem Prozess gegen die damalige Dekanin der Medizinischen Fakultät der Universität Jena kommen können, nein, müssen, denn die Indizien waren erdrückend. Doch ein Oberleutnant Richter von der Stasi-Hauptabteilung XX kommt in der Auswertung des Operativ-Vorgangs „Ausmerzer“, der sich mit den Vorgängen in Stadtroda befasste, am 22. April 1966 zu einer bizarren Erkenntnis: „Da sich der damalige Leiter der Heilanstalten . . . bereits in Westdeutschland gerichtlichen Untersuchungen aussetzen musste, andererseits Beschuldigte aus der DDR in höheren Positionen des Gesundheitswesens stehen . . ., könnte bei Auswertung ein unseren gesellschaftlichen Verhältnissen widersprechendes Ergebnis erreicht werden.“ Der Vorgang wird gesperrt und im Archiv abgelegt.

Wer sich mit dem Umgang der DDR mit NS-Untaten im Allgemeinen und mit „Euthanasie“-Verbrechen im Besonderen befasst, muss sich auf eine Reihe Widersprüchlichkeiten gefasst machen. Das wurde dieser Tage auch bei einer Veranstaltung der Stasi-Unterlagenbehörde in Berlin deutlich. Denn es gibt auch die anderen, die stringenten, mit der berüchtigten Pedanz des DDR-Geheimdienstes verfolgten Fälle. Etwa den des bis Mitte der 60er-Jahre unbehelligt als Chefarzt am Landambulatorium in Falkenberg/Elster praktizierenden Dr. Otto Hebold. Der Operativvorgang im Ministerium für Staatssicherheit (MfS) unter dem wiederum bezeichnenden Namen „Teufel“ führt 1965 zur Anklageerhebung. Hebold wird nachgewiesen, dass er als psychiatrischer Gutachter zwischen April 1940 und März 1943 über das Schicksal von rund 35 000 behinderten und geistig kranken Menschen entschied – allein anhand der für diesen Personenkreis angelegten Meldebögen. Die meisten von ihnen wurden in eine der sechs dafür bestimmten Tötungsanstalten geschickt. Hebold, einer der willigsten Vollstrecker bei der Vernichtung „lebensunwerten Lebens“, wird vom Bezirksgericht Cottbus zu lebenslanger Haft verurteilt.

Die Berliner Historikerin Annette Weinke hat 80 NS-Verfahren aus DDR-Zeiten ausgewertet. Sie verweist darauf, dass sich das Vorgehen gegen Euthanasie-Ärzte und NS-Tatverdächtige nicht auf die Pole Strafverfolgung und Vertuschung reduzieren lässt. Es war komplexer. Insgesamt sei der Umgang mit NS-Verbrechern im weißen Kittel „in erster Linie von den (rechts-)politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen im gegnerischen westdeutschen Teilstaat beeinflusst“ gewesen. Denn im Gegensatz zur Bundesrepublik wurde in der DDR nicht systematisch ermittelt – obwohl man mit dem von der Stasi seit 1954 angelegten, rund 6500 laufende Meter umfassenden „NS-Sonderarchiv“ über eine exzellente Quellenlage verfügte. Dieser Fundus wurde vom MfS vorzugsweise genutzt, um die Bundesrepublik mit Details aus NS-Karrieren westdeutscher Politiker zu konfrontieren und damit den Vorwurf des Revanchismus zu untermauern.

Doch die häufigen und im Zuge der Entspannungspolitik auch offiziell an die DDR gerichteten Rechtshilfeersuchen in NS-Strafsachen nötigten die Staatssicherheit immer wieder zum intensiven Quellenstudium. Das führte häufig zu unangenehmen Erkenntnissen auch über eigene Staatsbürger. Im Zwiespalt zwischen ihrem zur Schau gestellten Antifaschismus – die offizielle Ideologie verortete die einstigen Täter ausschließlich in Westdeutschland – und einer mitunter aber unabwendbaren Beweislage hatte sich das MfS dann für eine Vorgehensweise zu entscheiden, die den vermeintlich geringsten politischen Schaden verursachen würde – und die im Falle einer Anklage einen propagandistischen Effekt versprach. Zeichnete sich das nicht ab, wurde ein Prozess abgewendet oder in aller Stille abgespult.

„Wer gebraucht wurde, ist integriert worden, wer nicht, fiel raus.“ Die Historikerin Ute Hoffmann aus Bernburg unterstellt der Staatssicherheit, die in ihrer Doppelfunktion als Geheimdienst und polizeiliches Untersuchungsorgan seit Mitte der 60er-Jahre die zentrale Rolle bei Ermittlungen zum NS-Unrecht spielte, ganz schlichte pragmatische Motive. Ärzte, zumal in leitenden Funktionen, wurden in aller Regel gebraucht.

Die Historikerin hat an einem Ort einstigen Schreckens, an der Nervenklinik in Bernburg, schon 1988 auf eigene Initiative eine Gedenkstätte für die dortigen 40 000 „Euthanasie“-Opfer eröffnet. Dass die systematische Tötung Behinderter und psychisch Kranker durch den NS-Staat im selbstgefälligen Antifaschismus-Katalog der DDR keinen Platz fand, hatte sie längst festgestellt. Aber sie hatte auch schmerzhaft bemerkt, dass der Ärzteschaft diese Vertuschung historischer Tatsachen nicht ungelegen kam.

Und mehr noch: Ute Hoffmann erkennt eine „Kontinuität in der gesellschaftlichen Ausgrenzung“ jener Opfergruppen, die der NS-„Euthanasie“ anheim fielen. Wegen der „besonderen Täter-Opfer-Struktur“ – auf der einen Seite behinderte, verhaltensauffällige oder alte Menschen als soziale Randgruppe, auf der anderen Seite Ärzte, Pfleger und Juristen als renommierte Berufsgruppen hätten die „Euthanasie“-Opfer auch nach dem Ende des NS-Regimes bei der Mehrheit der Bevölkerung keine Lobby gefunden. Nicht einmal die in der DDR so hoch geschätzten Widerstandskämpfer seien bereit gewesen, sich dieser Opfer anzunehmen. Sie passten nicht ins Bild des antifaschistischen Kampfes.

So weist der Umgang mit dem zeitgeschichtlichen Thema unversehens wieder in die Gegenwart. Und in diesen Zusammenhang gehört der Umstand, auf den die Historikerin Christina Vanja aus Kassel hinweist: Die Gedenkstätte für die Opfer der NS-„Euthanasie“ in Hadamar bei Frankfurt ist trotz mehrfacher Hinweise des Förderkreises bislang in keinem Stadtführer der Mainmetropole verzeichnet. Mut macht, dass 12 000 Menschen dennoch jedes Jahr den Weg dorthin finden.

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