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Gesundheit: Physik des Ostereies

Eierkochen als Wissenschaft: Werner Gruber hat eine Formel aufgestellt, aus der sich die Garzeit ergibt

92 Grad Celsius. Das ist die Temperatur, bei der man einen guten Espresso kocht. Die Brühzeit ist so kurz und der Druck so hoch, dass nur wenige Bitterstoffe aus dem gemahlenen Kaffeepulver herausgelöst werden, während sich die Aroma- und Geschmacksstoffe in der kleinen Tasse voll entfalten können.

Werner Gruber möchte wissen, ob seine alte Kaffeemaschine auch bei 92 Grad Celsius brüht. Das lässt sich leicht überprüfen. „Nehmen Sie anstelle des Kaffees ein Ei mittlerer Größe und legen Sie es in den Kaffeefilter“, sagt der Experimentator mit unüberhörbarem Wiener Akzent. „Und vergessen Sie bitte den Papierfilter nicht!“ Denn falls das Ei beim Kaffeekochen dummerweise platzen sollte, könne man sich auf diese Weise eine ganze Menge Reinigungsarbeit ersparen.

Grubers Ei platzt nicht. Er lässt eine volle Kanne Wasser durch die Maschine laufen und überreicht einem der mehreren hundert Zuhörer im steil abfallenden Hörsaal der Universität Regensburg nach wenigen Minuten ein gelungenes Frühstücksei. Der Beweis dafür, dass das Brühwasser die Gerinnungstemperatur des Eiweißes von 84,5 Grad überschritten hat.

Werner Gruber philosophiert und experimentiert an diesem Tag vor einem besonderen Publikum: Er spricht vor der Deutschen Physikalischen Gesellschaft, bei der sich vor kurzem rund 5000 Experten in Regensburg versammelten. Gruber verblüfft die Fachkollegen mit seinem Forschergeist, den er auch in der heimischen Küche walten lässt.

Der Physiker, 1970 geboren und seit acht Jahren am Institut für Experimentalphysik der Uni Wien, führt Buch übers Eierkochen. Er misst die Dicke der Eier, bestimmt ihre Ausgangstemperatur und stoppt die Garzeit. Sein Motto: „Jedes Mal kochen, ein Experiment, jedes Mal essen, eine Messung.“ Grubers besondere Spezialität: Frühstückseier, die innen hart und außen weich sind.

Doch dazu bedarf es einiger Vorkenntnisse. Und Gruber, der als 17-Jähriger den „Ersten Österreichischen Jugendforschungspreis“ erhielt, nimmt sich Zeit, das Fachpublikum mit dem zerbrechlichen Forschungsobjekt vertraut zu machen.

Das Hühnerei besteht aus vielen Schichten: einer 0,2 bis 0,4 Millimeter dünnen Kalkschale und einer darunter liegenden zweilagigen Eihaut, die sich am flachen Ende zu einer Luftblase auffächert. Die Eihäute machen beim Pellen Probleme. Aber die Schälbarkeit habe nichts mit dem Abschrecken zu tun, versichert Gruber. Das Ei werde nur deswegen abgeschreckt, weil man so verhindern könne, dass es nachzieht und härter wird als beabsichtigt.

Ob es sich dagegen gut pellen lasse oder nicht, hänge ausschließlich vom Alter des Eies ab. „Eier, die ganz frisch sind, lassen sich nicht schälen“, sagt Gruber. Sie müssten wenigstens eine Woche alt sein. Denn mit der Zeit verschiebt sich der pH-Wert, der ein Maß für den Säuregrad ist. Damit ändert sich auch die Zusammensetzung der Haut, die sich immer besser vom Eiweiß trennen lässt.

Die vielen äußeren Schichten schützen das sich entwickelnde Küken gegen Feuchtigkeitsverlust, Fäulniserreger und Kälte und lassen dennoch Luft durch Tausende feiner Poren rein und raus. In seinem Innern enthält das Ei das mütterliche Carepaket aus Eiweiß und Dotter. Die Mischung aus 74 Prozent Wasser, zwölf Prozent Proteinen und 11 Prozent Lipiden ist eine Rundumversorgung für den Nachwuchs.

Beim Eierkochen stockt der Dotter bei etwa 65 Grad Celsius. Das Eiweiß besteht aus zwei Komponenten: dem Conalbumin, das bereits ab einer Temperatur von 61,5 gerinnt, und dem Ovalbumin, das erst bei 84,5 Grad fest wird.

„Wie lange muss man ein Drei-Minuten-Ei kochen?“ fragt Gruber in die Runde und wirft, da offensichtlich niemand die Lösung kennt, die Lösungsformel an die Wand. Die Zeit, die man benötigt, ein perfektes Frühstücksei zu kochen, außen hart, innen weich, ist nicht immer gleich. Je größer das Ei, umso länger muss es kochen: Die Garzeit verlängert sich mit dem Quadrat der Dicke. „Vor 100 Jahren waren die Eier kleiner als heute.“ Sie wurden schneller hart. Das klassische Drei-Minuten-Ei sei daher heute eigentlich ein Fünf- oder Sechs-Minuten-Ei.

Im hundert Grad heißen Wasser wird dem Ei von außen Wärme zugeführt. Zuerst beginnt das Conalbumin zu gerinnen, die langen Eiweißketten denaturieren. Dabei ändert sich ihre räumliche Struktur. Dieser chemische Prozess absorbiert Energie. Die Wärme wird in dieser Phase folglich nicht so gut ans innen gelegene Eigelb weitergegeben. Wenn das Eiweiß dagegen als Ganzes fest geworden ist, heizt sich auch der Dotter immer stärker auf.

Grubers Eierformel ist komplex. Sie enthält eine Logarithmusfunktion, vor der jeder normale Bürger am Morgen wohl ein wenig zurückschreckt. Der Physiker schätzt, dass sich seine mathematische Gleichung nur wegen des Logarithmus bisher nicht in der Bevölkerung habe durchsetzen können, obschon der deutsche Durchschnittsbürger pro Jahr über 200 Eier konsumiert. Dabei berücksichtigt die schöne Eierformel sogar die Lagertemperatur des Eies. Sie liegt in der Regel zwischen vier Grad Celsius (Kühlschrank) und 20 Grad Celsius (Zimmertemperatur).

Um es den Menschen einfacher zu machen, die optimale Kochzeit zu bestimmen, hat Gruber eine Schablone entworfen, in die man sein Ei einlegen und die Garzeit an einer Markierung ablesen kann. Beispiel: Ein Ei mit 45 Millimetern Durchmesser, das aus dem Kühlschrank kommt, ist nach fünf Minuten und 20 Sekunden außen fest und innen weich, hatte es vorher Raumtemperatur, kann man es eine halbe Minute eher aus dem kochenden Wasser nehmen.

Grubers Überraschungsei dagegen kommt aus einer verkehrten Welt. Der Dotter ist fest, das Eiweiß noch flüssig und glibberig. Ein solches Ei kann man auf dem Mount Everest kochen, wo Wasser schon bei rund 70 Grad siedet. Der Physiker empfiehlt jedoch folgendes Experiment:

Stellen Sie drei Kartons mit rohen Eiern in die Sauna und lassen Sie diese dort eine Dreiviertelstunde lang stehen. In der Sauna gibt es unterschiedliche Temperaturzonen: unten ist es kälter, oben heißer. Auf einer Stufe ist es gerade so warm, dass der Dotter langsam stockt, während das Eiweiß nie vollständig gerinnen kann, weil das Ovalbumin erst bei 84,5 Grad fest wird.

Nach seiner Regensburger Ostervorlesung rückt Gruber mit einem Koffer voller Instrumente und Eierkartons ab, um sich an den bevorstehenden Frühlingstagen wieder seinem allerliebsten Forschungsthema zu widmen: dem Bau graziler Papierflieger. Sie ahnen schon: Er hat einen Windkanal gebaut, um ihre Flugeigenschaften zu testen.

Von Werner Gruber kürzlich erschienen: „Unglaublich einfach. Einfach unglaublich – Physik für jeden Tag“, ecowin Verlag, Salzburg 2006, 284 S., 19 Euro 95

Internet: Kulinarische Physik

http://kochen.exp.univie.ac.at/

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