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Gesundheit: Schrilles Signal

Das Frankfurter Institut für Sexualwissenschaft ist von Schließung bedroht. Hat es seine Schuldigkeit getan?

Es war eine heiße Zeit, als 1973 an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main das Institut für Sexualwissenschaft gegründet wurde. Im selben Jahr hatte der Gesetzgeber beschlossen, dass Nacktdarstellungen in den Medien nicht mehr automatisch als jugendgefährdend zu werten seien. Zwei Jahre zuvor hatten prominente westdeutsche Frauen öffentlich bekannt: „Ich habe abgetrieben“, ein Jahr zuvor war in der DDR die Fristenlösung in Kraft getreten. Noch zwei Jahre früher war der Paragraf 175, der Homosexualität unter Strafe stellte, gelockert und der „Kuppeleiparagraf“ abgeschafft worden, der unzähligen Eltern als Begründung dafür gedient hatte, dass Freund oder Freundin nicht im Zimmer ihres Kindes übernachten durften. Sexuelle Selbstbestimmung wurde nach und nach als ein schützenswertes Rechtsgut anerkannt.

Im Jahr 2006, mehr als 30 Jahre, einige Gesetze und zahlreiche Forschungsprojekte später, ist das Frankfurter Institut für Sexualwissenschaft von Schließung bedroht. Für seinen renommierten Gründer und Leiter Volkmar Sigusch soll es nach dessen Emeritierung keinen Nachfolger geben. Obwohl der 65-jährige Sigusch dafür mindestens zwölf geeignete Frauen und Männer nennen könnte, wie er im Gespräch hervorhebt. Der Fachbereichsrat jedoch hat für diesen Donnerstag den Punkt „Streichung der Direktorenstelle“ auf der Tagesordnung, wie Medizin-Dekan Josef Pfeilschifter im Gespräch mit dem Tagesspiegel bestätigte.

Sigusch fürchtet, dass damit auf die Dauer die gesamte eigenständige Institutsarbeit gefährdet ist. Das aber würde „durch den Verlust von Stellen, auf denen sich Wissenschaftler qualifizieren könnten, zu einer Abwärtsspirale dieses interdisziplinären medizinischen Fachgebiets führen und eine nicht ersetzbare Lücke in der deutschen Wissenschaftslandschaft hinterlassen“, warnt auch die Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung in einem Brief an den Hessischen Minister für Wissenschaft und Kunst, Udo Corts, der dem Tagesspiegel vorliegt.

„An Einsparungen kommt die Universität derzeit nicht vorbei, und das Institut lässt sich keinem der derzeitigen Schwerpunkte der Frankfurter Universitäts-Medizin zuordnen“, argumentiert Dekan Pfeilschifter. Außerdem sei die Sexualmedizin inzwischen in der Gynäkologie, bei den Urologen, Hormonspezialisten und Psychiatern gut vertreten. „Wenn die Sexualwissenschaft wieder in der Psychiatrie angesiedelt wird, bedeutet das einen Rückfall ins 19. Jahrhundert“, fürchtet dagegen Sigusch.

Im 20. Jahrhundert haben zunächst Pioniere wie Magnus Hirschfeld, der von den Nazis vertrieben wurde, später unerschrockene empirische Forscher wie Alfred Kinsey das Tabuthema zum Forschungsgegenstand gemacht (siehe Infokasten). Ist im 21. Jahrhundert die verdienstvolle Aufklärungs-Arbeit in Sachen Sex erledigt? Hat die Sexualwissenschaft womöglich zu ihrer eigenen Abschaffung beigetragen, indem sie half, das Thema gründlich zu enttabuisieren? Und ist mit Medikamenten wie Viagra nicht ohnehin eine neue Ära angebrochen?

Keinesfalls eine Ära, in der der interdisziplinäre Blick auf die körperliche Liebe fehlen dürfe, findet Klaus Beier, Leiter des Instituts für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin der Berliner Charité: „Wir brauchen gerade jetzt dringend eine korrigierende Haltung zur flächendeckenden Behandlung mit erektionsfördernden Medikamenten – die oft ohne ausreichende Abklärung verschrieben werden“, sagt Beier. Für die paarbezogene Behandlung von Potenzproblemen in der Ambulanz des Instituts gibt es eine Warteliste.

Auch in der Forschung stehe noch einiges auf der Liste, meint Sigusch. „Anzunehmen, dass das sexualmedizinische Wissen jetzt ausreiche, ist ein Trugschluss.“ Die Störungen hätten sich nicht verringert, sondern verändert. „Wir sehen heute zum Beispiel Missbrauchsformen, die es früher nicht gegeben hat.“ In die Ambulanz des Frankfurter Instituts kommen auch Frauen mit verstümmelten Genitalien, Menschen mit geschlechtlichen Identitätsstörungen, pädophile Priester. „Dazu kommen die neuen Formen der sexuellen Süchtigkeit, die mit dem Internet entstanden sind“, berichtet der Autor des Buches „Neosexualitäten“. Das mache es dringend nötig, weiter Sexualforschung zu betreiben – in Zusammenarbeit mit den Kulturwissenschaften, in denen die „Gender-Studies“ entscheidende Impulse gaben.

Während Siguschs langjähriger Instituts-Mitstreiter Martin Dannecker sich seit Jahrzehnten dem Thema Homosexualität widmet, ist die ebenfalls in Frankfurt tätige Psychologin Sophinette Becker maßgeblich an der Abfassung von Standards zum Umgang mit Transsexualität beteiligt. Das sei dringend nötig, sagt Charité-Mediziner Beier, denn in den letzten Jahren sei es vielfach zu schnell zur Geschlechtsveränderung per Skalpell und Hormonen gekommen. Auch Sexualität und HIV, körperliche Liebe im Alter und die „offenbar zunehmenden Formen der Asexualität“ in einer Gesellschaft, in der Sex medial dauerpräsent ist, seien wichtige Themen, sagt Sigusch.

Die vielfältigen Forschungsaktivitäten Siguschs und seiner Mitarbeiter will Dekan Pfeilschifter keineswegs in Abrede stellen, im Gegenteil: „Mit Volker Sigusch haben wir einen exzellenten Wissenschaftler mit internationaler Strahlkraft in unserem Fachbereich.“ Zugleich kritisiert er jedoch, das Institut habe sich in letzter Zeit „komplett aus der Lehre ausgeklinkt“. Sigusch verweist dagegen darauf, dass Medizinstudenten erst seit kurzem das neue Wahlpflichtfach Sexualmedizin wählen können. Außerdem bietet das Institut Fort- und Weiterbildungen für niedergelassene Ärzte an.

Ein Aktivposten ist auch die umfangreiche Fachbibliothek, der dank der Unterstützung der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur von Jan Philipp Reemtsma auch seltene Bücher und Nachlässe von den Nazis vertriebener jüdischer Forscher hinzugefügt werden konnten. Nach der Bibliothek des Kinsey-Instituts ist sie die zweitgrößte einschlägige Fachsammlung der Welt. Auch der Dekan hält es für zwingend, sie zugänglich zu halten und zu pflegen. „Das könnte jedoch im Rahmen der Medizinischen Hauptbibliothek oder des Instituts für Geschichte der Medizin geschehen.“ Auch die Fortführung der Forschung würde er sich wünschen – etwa im Rahmen einer für die Uni kostenneutralen Stiftungsprofessur.

„Ohne das Frankfurter Institut für Sexualwissenschaft blieben in Deutschland nur die zwei Institute in Berlin und Hamburg und ein etwas weniger eigenständiges in Kiel“, gibt Andreas Hill vom Institut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie am Uniklinikum Hamburg-Eppendorf zu bedenken, Geschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung. Dann gäbe es in der Sexualwissenschaft ein noch eindeutigeres, in universitären Angelegenheiten sonst gänzlich ungewohntes Nord-Süd-Gefälle.

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