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Gesundheit: „Sie haben vergessen, wie man eine Demokratie aufbaut“

Die Soziologin Uta Gerhardt kritisiert die amerikanische Besatzungspolitik im Irak – und schaut zurück auf Deutschland 1945

UTA GERHARDT (65)

ist Professorin für Soziologie an der Uni Heidelberg. Zuvor lehrte sie in London und Gießen. Ihr Forschungsschwerpunkt: Besatzungsherrschaft in Deutschland.

Foto: privat

Frau Gerhardt, Autoren einer US-Studie über amerikanische Interventionen in Kriegs- und Krisengebieten sagen, die Operation im Irak sei „das ehrgeizigste Wiederaufbauprogramm seit 1945“. Deutschland 1945, Irak 2003 – ein sinnvoller Vergleich?

Erstaunlich, dass man den Irak-Krieg jetzt als Wiederaufbauprogramm darstellt. Ursprünglich war der Krieg eine Reaktion auf die Vernichtung der beiden Türme in New York durch mutmaßliche arabische Terroristen. Die Kriegskoalition nannte als Ziele: einen terroristischen Bereich der Welt auszuschalten, Irak an der Produktion von Massenvernichtungswaffen zu hindern und das Land von der Diktatur zu befreien. Das war nicht als Wiederaufbauprogramm gedacht.

Auch im Krieg gegen Nazideutschland ging es in erster Linie darum, den Diktator auszuschalten und den Genozid zu beenden.

Sicher, in beiden Fällen sollte eine Diktatur bekämpft werden. Es ist ein großes Glück, dass Saddams Folterregime besiegt wurde. Aber die Tragik ist: Die USA haben offenbar seit den Fünfzigerjahren vergessen, was für wahnsinnige Anstrengungen nötig sind, um eine Demokratie aufzubauen. Damals hat man diese Anstrengungen unternommen. Parallel zum Kriegsgeschehen des Zweiten Weltkrieges wurden ausführliche Memoranden über den Wiederaufbau Deutschlands verfasst. Sicherlich schrieb im Herbst 2001 in den USA niemand an solchen Memoranden.

Wurde nicht zunächst am Morgenthau-Plan gearbeitet, nach dem Deutschland ein Agrarstaat ohne staatliche Souveränität sein sollte?

Der Morgenthau-Plan war ein konkurrierendes Modell, das sich nicht durchgesetzt hat. Das Kriegsministerium gründete aber schon 1942 eine Abteilung für Zivilverwaltungen in Deutschland, Japan und anderen Ländern. Zehn große Universitäten, darunter Harvard und Princeton, veranstalteten Ausbildungsprogramme für künftige Militärregierungsoffiziere der besetzten Länder.

Was lernten die Offiziere über Deutschland?

20 Bereiche der Sozialstruktur wurden in den Army Special Training Kursen behandelt, darunter auch Familienleben, Kindererziehung, die Kirchen, das Justizsystem. Daraus entstand unter anderem das 500-seitige Große Handbuch, das jeder Offizier kennen musste.

Haben die Besatzer auch danach gehandelt?

Sicher. Ein Beispiel ist der vorbildliche Schutz der Kulturgüter: Museen, Archive, Bibliotheken wurden sofort unter besonderen Schutz gestellt. Dafür wurden ganze Truppen abgestellt – aber campieren durften sie nicht in den Museen. Plünderungen durch amerikanische Soldaten waren vom ersten Tag an unter Strafe gestellt, Plünderungen durch Deutsche wurden verhindert. Die Amerikaner wussten, dass das in Kriegswirren nicht unwahrscheinlich ist.

Und gut 60 Jahre später, im Irak hatten sie das wieder vergessen?

Offensichtlich. Dort wurde das große archäologische Museum geplündert und zerstört, Kulturschätze aus assyrischer und babylonischer Zeit verschwanden oder wurden vernichtet. Ich kann es bis heute nicht fassen. Die Kunst hätte von der Besatzungsmacht geschützt werden müssen vor dem Vandalismus, der aus der Diktatur kommt – aus Achtung vor dieser großen Kultur. Kultur und Kunst sind das humanitäre Erbe der Menschen. Das wäre jetzt ein Wiederanknüpfungspunkt für die Iraker.

Die Amerikaner kamen 1945 als Sieger nach Deutschland, in ein Land von Tätern. Die Iraker wurden eher als Opfer gesehen. Agieren die Besatzer im Irak deshalb weniger entschlossen in Sachen Demokratisierung?

In gewisser Weise waren die Deutschen auch die ersten Opfer der Nationalsozialisten. Es war eine verbrecherische Regierung. Kaum waren die Nazis an der Macht, haben sie den Rechtsstaat zerstört. Aber verbrecherische Staaten finden offenbar immer Menschen, die sich an den Verbrechen beteiligen und andere, die sich einschüchtern lassen. Wie man nach der Zerstörung eines Regimes mit diesen Menschen verfährt – das muss eben sehr gut überlegt sein.

Wie schafften es die Amerikaner, aus Mitläufern, inneren Emigranten und Opfern Bürger eines demokratischen Landes zu machen?

Es war ein gigantisches Reeducation-Programm, das nach vier Grundsätzen ablief: Entnazifizierung, Entmilitarisierung, Dezentralisierung und Dekartellisierung. Erste Kooperationspartner waren die als „unbedenklich“ eingeschätzten Kräfte in Deutschland. Der zentrale Gedanke war, dass Demokratie am besten über ein funktionierendes Wirtschaftssystem zu vermitteln sei. Der Soziologe, der wichtige Gedanken zum Wiederaufbau beisteuerte, war Talcott Parsons. Er empfahl für Deutschland das „Wirtschafts-Berufs-System“: An die Stelle der Großindustrie und der Monopole sollte ein breiter Mittelstand treten, eine breite Palette von Berufen und Qualifikationen. Ziel war eine differenzierte, exportorientierte Vollbeschäftigungswirtschaft, frei von den Fesseln der Abhängigkeit der Kriegswirtschaft.

In Deutschland gab es eine gut ausgebildete Mittelschicht – im Irak nicht.

Parsons wollte die unterdrückte deutsche Mittelschicht aufbauen, nicht nur in der Wirtschaft, auch in Kultur und Wissenschaft. Dem Irak muss man da einen Vorlauf geben. Vielleicht sollten die USA sich zum Vorbild nehmen, wie die Mittelschicht seit einem Jahrzehnt in Russland aufgebaut wird. Dort gab es bald nach dem Regimewechsel zahllose kleine Geschäfte. Bis heute entstehen neue Unternehmen, einfach weil den Mittelschichtkräften viele Entwicklungsmöglichkeiten gegeben werden.

Nun ist aber ausgerechnet die Ölförderung im Irak die wirtschaftliche Hoffnung.

Es wäre töricht, sich darauf zu verlassen. Die Ölförderung wird unter ausländischer Überwachung stehen, so wird sich keine irakische Mittelschicht bilden. Noch ist es aber nicht zu spät für die Zivilverwaltung im Irak, den Rat von Sozialwissenschaftlern – auch denjenigen der Vierzigerjahre – anzunehmen.

Wie wäre es mit einem Marshallplan für den Nahen Osten?

Dann müsste man es aber auch wirklich so machen wie beim Marshallplan: Nicht Firmen von außen bekamen Hilfen zum wirtschaftlichen Wiederaufbau, sondern die deutschen Unternehmen mussten alles selber machen – und Deutschland musste sich mit den übrigen 15 Ländern vernetzen, in Richtung europäische Wirtschaftsgemeinschaft.

Kann eine arabisch-nationalistisch geprägte Diktatur im Nahen Osten überhaupt in eine pluralistische Demokratie westlicher Prägung verwandelt werden?

Wahrscheinlich schon. Es ist interessant, wie weit die jugoslawischen Länder schon auf dem Weg zu Demokratien und Multireligionen waren, als der Krieg das alles zu zerstören suchte. Jetzt ringen sie wieder darum, moderne Länder zu werden mit gleichberechtigten Religionen. Man kann auch Ägypten so sehen. Der Islam ist eine alte Kulturreligion. In Krisensituationen neigen Muslime zum Fundamentalismus, aber auch im Christentum gab es fundamentalistische Phasen. Wenn man andere Kräfte stärkt, durch Bildung, Reisemöglichkeiten, Kultur und Wissenschaft, könnten die Leute den Fundamentalismus hinter sich lassen. Er verliert dann an Attraktivität. Die Iraker wollen jetzt gerne wählen – das ist doch ein gutes Zeichen.

Wenn die Iraker jetzt schon wählen dürften, fürchten die Amerikaner, käme es zu einem schiitischen Gottesstaat.

In Deutschland war ja 1945 zwölf Jahre nicht mehr gewählt worden. Damals befürchteten die Amerikaner, die Leute würden bei zu frühen Wahlen autoritär wählen. Deshalb hat Lucius D. Clay zuerst in Gemeinden und Stadtverwaltungen wählen lassen. Da kennt man die Kandidaten persönlich. Als die Gemeindeverwaltungen funktionierten, konnten die Kreistage und schließlich die Landtage gewählt werden. Auch die Selbstverwaltung im Irak könnte man vielleicht von der lokalen zur nationalen Ebene aufbauen.

Das Gespräch führte Amory Burchard.

Uta Gerhardt spricht am heutigen Dienstag um 19 Uhr im Einstein Forum über „Der wahre Sieg der Alliierten. Die Reeducation Deutschlands als Modell“ (Am Neuen Markt 7, Potsdam).

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