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Gemeinsame Entscheidungsfindung ist eine wichtige Maxime moderner Medizin.

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Sprechende Medizin: Halbgötter in Verruf

Ärzte, die völlig alleine entscheiden, gelten zunehmend als unmodern. Die „sprechende Medizin“ bezieht den Patienten mit ein. Denn vor allem bei chronischen Krankheiten sind die Betroffenen oft Experten ihrer selbst. Unsere Autorin schreibt über das Beispiel einer ALS-Erkrankten aus Berlin.

„Ich habe mich vehement gegen die PEG zur Wehr gesetzt“, berichtet Angelika von Hagen. Ihr wichtigster Vorbehalt gegen die Sonde, die durch eine kleine Öffnung in der Bauchdecke Nahrung in den Magen leitet: Sie wollte ihr Leben nicht „künstlich“ verlängern, keine Belastung für die ihr nahestehenden Menschen werden. „Besser wird ja nichts mehr“, gibt sie nun, ein paar Jahre später, mit Bewegungen der Augen in ihren Spezialrechner ein. Denn inzwischen ist vieles schlechter geworden, und Angelika von Hagen kann nur noch schwer sprechen.

Im Jahr 2005 wurde bei ihr ALS diagnostiziert. Amyotrophe Lateralsklerose – eine neurologische Krankheit, die dazu führt, dass wesentliche Muskeln ihres Körpers den Dienst versagen, weil sie von den dazugehörigen Nerven nicht mehr angesteuert werden. Arme und Beine zu bewegen, schlucken und schließlich auch atmen: All das wird nach und nach unmöglich. Ohne die Magensonde wäre Angelika von Hagen nicht mehr am Leben. Sie hat sich für die enterale (direkt in das Verdauungssystem geleitete) Ernährung aber erst entschieden, als ihr klar wurde, dass sie jederzeit auch wieder damit aufhören kann. Dass sie sich mit der Sonde keinem Automatismus unterwirft, sondern durch sie vielleicht sogar mehr Freiheit gewinnt. Zum Beispiel, weil immer noch Medikamente durch die Sonde fließen können, wenn sie eines Tages keine Nahrung mehr zu sich nehmen will.

All das gab ihr Thomas Meyer zu bedenken, Leiter der ALS-Ambulanz der Charité. Die Patientin und der Neurologe, einer der wenigen ALS-Spezialisten in Deutschland, treffen sich nur drei- bis viermal im Jahr. Zwischen den Besuchen in der Charité hat sie Kontakt zu anderen Ärzten, bekommt Physiotherapie und inzwischen auch viel häusliche Unterstützung. Wenn sie aber zu Meyer geht, dann gibt es viel zu bereden. Was an der Charité stattfinde, das sei die „Entscheidungssprechstunde“, sagt Meyer.

„Shared decision making“, gemeinsame Entscheidungsfindung, so lautet eine wichtige Maxime der modernen Medizin. Der „Halbgott in Weiß“, der am besten wusste, was für seine Schutzbefohlenen gut und richtig war, ist in Verruf geraten. Rein juristisch gesehen ist schließlich jede Behandlung eine Körperverletzung, die – außer im Notfall – immer der Zustimmung des Betroffenen bedarf. Manchmal ist die Zustimmung eher Formsache, bei kleineren Gesundheitsproblemen schließen sich die meisten dem sachverständigen Urteil ihres behandelnden Arztes gern an. Anders ist das bei chronischen Leiden, die einen Menschen über Jahre und Jahrzehnte begleiten: Man wird dann mit der Zeit zum Experten für die eigene Zuckerkrankheit, das Rheuma oder auch ein Krebsleiden, das sich zwar nicht heilen, aber lange in Schach halten lässt.

ALS sei allerdings ein besonders gutes Beispiel dafür, dass es möglich und nötig ist, Entscheidungen gemeinsam zu fällen, findet Neurologe Meyer. „Es ist vielleicht die kommunikativste Krankheit überhaupt.“ Viele trifft das Leiden, wenn sie noch relativ jung sind, mitten im Leben stehen. Die Perspektiven sind niederschmetternd, es gibt keine Heilung, allenfalls die Hoffnung auf einen etwas gnädigeren, langsamen Verlauf. Und eine ganze Palette von modernen technisch-medizinischen Methoden, mit denen der unwiderrufliche Ausfall wichtiger Körperfunktionen kompensiert werden kann. „Doktor und Patient wachsen unter diesen Umständen leichter zu einem Team zusammen, das gemeinsam einen Weg beschreitet und eine Strategie entwickelt“, meint Angelika von Hagen.

Thomas Meyer will kein Überredungskünstler sein, er hat Respekt vor dem Willen seiner Patientin

Gemeinsame Entscheidungsfindung ist eine wichtige Maxime moderner Medizin.
Gemeinsame Entscheidungsfindung ist eine wichtige Maxime moderner Medizin.

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Wie viel Zeit bleibt? Wie viel gute Zeit kann es sein? An diesem Abend, nach dem Gespräch mit ihrem Arzt und mit der Journalistin am heimischen Kaffeetisch, wird Angelika von Hagen mit ihrem Mann in die Philharmonie gehen, Musik ist eines ihrer Lebensthemen. Der Weg ins Konzert ist allerdings mit den Jahren immer mühsamer geworden. Und bevor es losgehen kann, muss sie einen Beutel Spezialnahrung zu sich nehmen, über die PEG.

In der „Entscheidungssprechstunde“ ging es beim letzten Mal um ein weiteres Thema, das nun bald anstehen könnte: Luftröhrenschnitt. Man kann diesen Zugang nutzen, um den Schleim abzusaugen, wenn die Muskelkraft zum Abhusten nicht mehr ausreicht. Die dauerhafte Öffnung am Hals ist aber auch ein Zugang für Geräte, mit denen „invasiv“ beatmet werden kann, wenn die eigene Kraft dafür fehlt – eine Lösung, die sich letztlich nur eine Minderheit von acht Prozent der Betroffenen wünscht. Angelika von Hagen hat über das alles nachgedacht, immer wieder, sie hat intensive Gespräche mit ihrem Mann geführt. Heutiger Stand der Dinge: Sie ist nicht nur gegen die Beatmung, sondern schon gegen den Luftröhrenschnitt. Sie weiß, was das bedeutet, früher oder später. Im letzten Jahr haben sie und ihr Mann sich ihren gemeinsamen Platz auf dem Friedhof in Stahnsdorf ausgesucht.

Thomas Meyer will kein Überredungskünstler sein, er hat Respekt vor der persönlichen Entscheidung seiner Patientin. Ebenso wie vor der anderer langjähriger Patienten, die sich für eine künstliche Beatmung entscheiden – oder die schon die künstliche Ernährung ablehnen. Er sei oft eine Art Coach, ein Berater, so sagt er. Letztlich müsse die gemeinsame Entscheidung auf drei Säulen ruhen: Zunächst natürlich auf dem medizinischen Bild, das die Erkrankung in einem bestimmten Stadium bietet, und dem Wissen über den weiteren Verlauf. Hier sind Fachmann und Fachfrau allein gefragt. Sie müssen dabei auch die Informationen einordnen, die ihre Patienten aus anderen Quellen mitbringen. Zweitens – „und das kann man nicht groß genug schreiben“ – auf dem Willen des Erkrankten und seinen persönlichen Werten. Die dritte Säule bilden schließlich, ganz pragmatisch, die vorhandenen Möglichkeiten: Wer lebt mit dem Patienten zusammen, wer kann ihn pflegen, wie gut ist der Kontakt zum Hausarzt, sind die Spezialisten in der Nähe, und, nicht zuletzt: Was zahlt die Kasse?

Angesichts dieser letzten Säule fühlt sich Meyer als Gatekeeper, als Organisator. Insgesamt findet er es wichtig, seine Rolle flexibel zu gestalten. „Gemeinsame Entscheidungsfindung“ folgt keinem vorgefertigten Drehbuch. „Einige Patienten wünschen sich, geführt zu werden, sie wollen nicht jedes Detail wissen, und auch darauf haben sie ein Recht.“ Andere Menschen mit einer chronischen, unheilbaren Krankheit wünschen sich ihren sensiblen, mitfühlenden und kenntnisreichen Arzt, den sie immer wieder treffen und mit dem sie über ihre existenziellen Anliegen reden können, auch privat als Freund. So verständlich das ist: Er kann es nicht sein. Einladungen zum Geburtstag habe er bisher immer abgelehnt, betont der Neurologe. „Und zwar auch mit Rücksicht auf den Patienten, für den ich ja im Zweifelsfall eine ordnende Kraft sein muss.“

Thomas Meyer spricht am 15. März auf dem ALS-Tag der Charité, der für Interessierte offen ist. Information und Anmeldung (erforderlich) unter gabriele.frisch @charite.de. Zusammen mit ihrem Mann Werner Doyé hat Angelika von Hagen einen Film über ihre Krankheit gedreht: „Leben mit ALS. Eine Langzeitbeobachtung 2005 bis 2013“. Er soll am 3. April in der Charité erstmals öffentlich gezeigt werden.

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