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Gesundheit: Staatsbibliothek Berlin: Drohende Gedächtnislücken

Bibliotheken, so heißt es, sind das Gedächtnis der Menschheit. Aber dieses Gedächtnis ist bedroht: Jahrhundertealte Buchschätze - aber auch Gedrucktes aus den letzten 150 Jahren - zerfallen.

Bibliotheken, so heißt es, sind das Gedächtnis der Menschheit. Aber dieses Gedächtnis ist bedroht: Jahrhundertealte Buchschätze - aber auch Gedrucktes aus den letzten 150 Jahren - zerfallen. Die gute Nachricht, dass die Rettung der vom Tintenfraß schwer geschädigten Notenhandschriften Johann Sebastian Bachs Fortschritte macht, verliert angesichts der riesigen Schäden in anderen Bereichen viel von ihrem Glanz.

Vor kurzem haben sich die Direktoren der führenden Bibliotheken in Deutschland getroffen, um ein Notprogramm zu vereinbaren. Da das Holzschliffpapier in den Büchern zerfällt, sind in den deutschen Bibliotheken 60 Millionen Bücher bedroht. Säuren zerfressen die Werke von innen heraus. Die Bayerische Staatsbibliothek schätzt, dass 3,5 Millionen Bände saniert werden müssen: Kosten 130 Millionen Mark. Aber im letzten Jahr stand der Bayerischen Staatsbibliothek dafür nur eine Million Mark zur Verfügung. Unter solchen Bedingungen würde die Sanierung 130 Jahre dauern.

Deswegen verabredeten sich jetzt die Bibliotheken, wenigstens ein Exemplar von jedem Buch zu sichern. Entweder im Originalzustand durch Entsäuerung des Papiers oder als Kopie. Letzter Ausweg ist die Verfilmung auf Sicherheitsfilmen, die eine langfristige Reproduktion gewährleisten und nicht selbst dem Verfall unterliegen.

Für Juni ist ein neues Treffen der Bibliotheksdirektoren in Berlin geplant. Dann soll eine Arbeitsgemeinschaft gegründet werden, die die Bucherhaltung koordiniert. Dabei geht es um die Zusammenarbeit zwischen Bibliotheken und Firmen, die professionell die Bestandserhaltung der Bücher betreiben. Der Generaldirektor der Berliner Staatsbibliothek, Antonius Jammers, beschreibt das Dilemma so: Auf keinen Fall darf eine Lösung herauskommen, bei der durch mangelhafte Arbeit am Ende weder das Buch noch eine Filmkopie des Buches erhalten bleibt. Für den Schutz besonders kostbarer Stücke wird außerdem mit der Zentralstelle für den Zivilschutz verhandelt. Sie könnte diese Raritäten im Sicherheitsstollen bei Freiburg lagern und auch für eine qualitätsgerechte Verfilmung einstehen. Die Bibliotheken bekämen dann Kopien zur Nutzung für die Leser.

Allein die Staatsbibliothek zu Berlin rechnet mit Restaurierungskosten von mindestens 250 Millionen Mark. Besonders dringlich ist der Sanierungsbedarf bei den Raritäten in der Sondersammlung seltener Drucke. Dazu gehören nicht nur jene gewichtigen Folianten aus der Frühzeit des Buchdrucks, sondern auch kleine unscheinbare Flugschriften und Broschüren aus der zweiten Hälfte des 19. und den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Sogar NS-Propagandaschriften werden ihrer historischen Bedeutung und ihres Seltenheitswerts wegen in dieser Abteilung aufbewahrt. Gerade diese auf billigem, holzhaltigem Papier gedruckten Schriften sind besonders gefährdet. Unter dem Einfluss der Luftfeuchtigkeit bilden sich Säuren, die das Papier regelrecht zerbröseln.

Bei den alten Drucken sind eher schlechte Lagerbedingungen oder die intensive Nutzung für die Schäden verantwortlich. Jedes Buch, jede kleine Broschüre hat ihre eigene "Krankengeschichte". Mancher Band, bei dem man heute Schimmelpilzbefall diagnostiziert, hat sich regelrecht angesteckt bei Büchern, die unsichtbare Pilzsporen in die Bibliothek eingeschleppt haben. Um sie zu retten, müssen sie mit Röntgenstrahlen behandelt werden, die die Schimmelpilze abtöten.

Immer mehr bedrohte Raritäten

In jüngster Zeit wird auch den Einbänden verstärkt Aufmerksamkeit geschenkt. Noch in den 80-er Jahren war das Bewusstsein, wie wichtig die Erhaltung der ursprünglichen Einbände ist, noch sehr unterentwickelt. Heute hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass der historische Einband für das Erscheinungsbild unverzichtbar ist. Ein Beispiel dafür ist die Lyoner Bibel, die um 1550 gedruckt wurde. Der Einband stammt von einem der berühmtesten Buchbinder jener Zeit: Jakob Krause. Er hat diese Bibel für den Kurfürsten August von Sachsen gebunden, dessen Hofbuchbinder er war. Bei der Restaurierung wurde diesem Einband, der das kurfürstliche Wappen trägt, besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Denn er ist ein überzeugendes Beispiel für die Buchbindekunst des 16. Jahrhunderts.

Der Bestand bedrohter Raritäten in der Staatsbibliothek wird zusehends größer. Das liegt jedoch weniger daran, dass es immer wieder gelingt, neue Kostbarkeiten zu erwerben. Vielmehr spüren die Bibliothekare bei der Schadensfeststellung im "ganz normalen" Altbestand immer wieder Kostbarkeiten auf. So kostbar diese Bestände auch sind, stehen sie doch allen Benutzern der Staatsbibliothek zur Verfügung - in dem dafür eingerichteten Lesesaal. Ausgenommen ist lediglich ein kleiner Bestand von "Rarissima" für die der Benutzer die Zustimmung des Abteilungsleiters einholen muss. Zur Zeit ist der Raum allerdings mit nur 15 Plätzen sehr beschränkt.

Bis in die 80-er Jahre hinein wurden beschädigte Bücher eher nach dem Zufallsprinzip restauriert - etwa wenn sie für Ausstellungen benötigt wurden. Inzwischen wurde die Konzeption der Restaurierung erneuert. Heute herrscht die traurige Erkenntnis, dass nicht alles, was Restauratoren leisten können, auch zu finanzieren ist. Heute ist der Wert des jeweiligen Objekts entscheidend. Eine Richtschnur ist der Versicherungswert. Daneben ist auch die Herkunft eines Buches - beispielsweise als Teil einer Gelehrtenbibliothek wie der des Berliner Schriftstellers und Literaturkritikers Karl August Varnhagen von Ense - von Bedeutung. Andere Bücher sind deshalb für die Wissenschaft von Bedeutung, weil ihre berühmten Besitzer den Text in kleinen Randnotizen kommentiert haben.

Zwar konnten Ende vergangenen Jahres im Haus Unter den Linden eine moderne Restaurierungswerkstatt in Betrieb genommen und zusätzliche Restauratorinnen eingestellt werden. Die Kapazität reicht aber bei weitem nicht aus, um alle notwendigen Arbeiten zu erledigen. Die Staatsbibliothek arbeitet daher seit langem mit selbstständigen Buchbindern und Restauratoren zusammen. Darüber hinaus bestehen Verträge mit dem Bucherhaltungszentrum in Leipzig. Dort sind die benötigten Geräte für eine Massenentsäuerung von Büchern aus holzhaltigem Papier vorhanden. Ebenso werden Bücher mit Schimmelpilzbefall nach Leipzig gegeben, wo die Pilzsporen in einem Spezialbad ausgeschwemmt werden.

Bücher, die nur noch durch das Papierspaltverfahren erhalten werden können, werden ins Zentrum für Bucherhaltung gegeben. Bei säuregefährdeten Beständen aus der Raritäten-Abteilung werden die einzelnen Seiten der Schriften grundsätzlich gespalten. Denn durch die Entsäuerung kann zwar der Zerfall des Papiers gestoppt werden, bereits eingetretene Schäden bleiben jedoch bestehen.

Spender gesucht

Allein aus den laufenden Haushaltsmitteln kann die Staatsbibliothek die Restaurierung ihrer Bestände nicht bewältigen. Zwar wendet sie mit rund drei Millionen Mark im Jahr mehr als andere Bibliotheken für die Bucherhaltung auf. Dennoch würden nahezu 100 Jahre ins Land gehen, bis sie alle ihre Schätze gesichert hätte. Hoch willkommen sind für die Beschleunigung der Restaurierungsarbeiten beispielsweise Buchpatenschaften, bei denen der Spender gezielt die Restaurierung einzelner Bücher fördern kann. Mit etwa 20 Mark lässt sich die Entsäuerung eines Buches finanzieren, mit 50 Mark ein neuer Bucheinband und für durchschnittlich 80 Mark pro Band können gefährdete Bücher auf Film kopiert werden. Wer die Patenschaft für eine kostspielige Restaurierung aus dem Raritätenbestand - ab etwa 200 Mark pro Band - übernimmt, erfährt nicht nur, welches Buch mit seiner Spende gerettet wird. Sein Name wird auch in dem jeweiligen Buch in einem Exlibris genannt.

Auf diese Weise konnten bereits die "Briefe an Lina als Mutter" von Sophie von La Roche und "Ilius Pamphilius und die "Ambrosia" von Bettina von Arnim wieder hergestellt werden, beide aus der Bibliothek Varnhagen, oder "Uebrige noch ungedruckte Werke des Wolfenbüttlischen Fragmentisten. Ein Nachlass von Gotthold Ephraim Leßing" aus dem Jahr 1767. Die durchschnittlichen Kosten für einen Band aus dem Raritätenbestand liegen heute bei rund 400 Mark, obwohl auch mit kleineren Beträgen viel erreicht werden kann: Flugschriften oder Broschüren von geringem Umfang sind im Zuge des maschinellen Papierspaltens für weniger als 100 Mark zu restaurieren.

Anne Strodtmann

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