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Gesundheit: Sterben dürfen

Viele Ärzte erhalten Todkranke um jeden Preis und gegen ihren Willen am Leben – das muss sich ändern

Am Nachmittag des 26. Februar 2007 wird der 86-jährige Sigmund K. auf Veranlassung seiner Tochter, in deren Familie er lebt, in die Notaufnahme eines Berliner Krankenhauses eingewiesen. Herr K. hatte unversehens über heftigste Bauch- und Rückenschmerzen geklagt. Bei Ankunft in der Klinik war er in kritischem Zustand: reaktionslos, blass und kaltschweißig, der Blutdruck kaum messbar. Die Diagnose war zehn Minuten nach der Aufnahme gestellt: „Disseziierendes Bauchaortenaneurysma“, drohender Durchbruch der verkalkten Bauchschlagader und Blutung in die Bauchhöhle. Unverzüglich wird der Chirurg hinzugezogen: „Der gehört auf den Tisch, und zwar sofort – acht Blutkonserven bestellen! Angehörige bitte unterschreiben lassen!“

Bis vor einem dreiviertel Jahr – damals hatte er einen kleinen Schlaganfall erlitten – war Herr K. nach Auskunft seiner ihn begleitenden Tochter und ihres Ehemannes, die sich rührend um ihn kümmerten, ein „rüstiger alter Herr“ gewesen. Seitdem jedoch sei er „immer einsilbiger und hinfälliger geworden“; er schlief viel und aß wenig, war zunehmend verwirrt, lehnte ärztliche Untersuchungen ab und sprach häufig davon, dass „es jetzt genug sei und er schlafen möchte – für immer“.

Auf den Versuch der Tochter, Chancen und Risiken des bevorstehenden langwierigen Eingriffs – den Ersatz der Bauchschlagader durch eine Prothese – insbesondere aber den Wunsch ihres Vaters, sterben zu wollen, mit den Ärzten zu erörtern, gehen diese nicht ernsthaft ein. Im Gegenteil, der Operateur wird ungehalten: „Kommen Sie zur Vernunft, wir müssen operieren! Sie können doch nicht wirklich wollen, dass ihr Vater verblutet – oder!? Bitte unterschreiben Sie!“

Tochter und Schwiegersohn jedoch haben erhebliche Bedenken gegen eine Operation: Sie respektieren den Wunsch des Vaters und bezweifeln zudem intuitiv die Erfolgschancen des Eingriffs. Doch sie spüren auch, dass sie dem Druck und der Übermacht des ärztlichen Urteils, unterlegt noch mit der Unterstellung, am Tode des Vaters schuldig zu werden, nicht gewachsen sind. Sie geben nach. Viereinhalb Stunden dauert die Operation, 21 Blutkonserven fließen in die Venen von Herrn K. 36 Stunden nach dem Eingriff ist er tot. Verstorben auf der Intensivstation an einer unbeherrschbaren transfusionsbedingten Blutgerinnungsstörung.

Ilse S. ist eine 56-jährige Patientin, die mit einem „ausbehandelten“ metastasierenden Bronchialkarzinom zu Hause von ihrem Ehemann und einem Pflegedienst versorgt wird. Erst vor wenigen Tagen war sie so weit – nach langen Gesprächen mit ihrem Ehemann und einem Geistlichen – ihr Sterben annehmen zu können. Seitdem lag eine kurz gefasste Patienten- verfügung auf ihrem Nachttisch.

Wenige Tage später wird sie abends plötzlich bewusstlos und atmet nicht mehr. Herr S. ist allein mit ihr. Unterschwellig ergreift ihn Panik, er weiß nicht, was zu tun ist. Er versucht sie zu wecken. Ist seine Frau tot? Hilflos läuft er die Treppe hinunter, um Nachbarn um Beistand zu bitten. Niemand öffnet.

Schließlich ruft er die Feuerwehr. Zehn Minuten später erscheint der Notarzt, der, noch ehe Herr S. überhaupt die Krankheit seiner Frau und das Akutgeschehen schildern sowie die Existenz einer Patientenverfügung erwähnen kann, ihn zur Seite drängt und auffordert, in der Küche zu warten und die Tür zu schließen. Derweil beginnt er damit, Ilse S. im Nachbarzimmer wiederzubeleben. Verzweifelt wartet Herr S. in der Küche. Nach einer halben Stunde eröffnet ihm der Notarzt, dass die Reanimation erfolgreich gewesen sei; seine Frau habe Kammerflimmern gehabt, das er durch Elektroschocks erfolgreich behandelt habe.

Tief bewusstlos und künstlich beatmet liefert der Notarzt Ilse S. im Endstadium eines Tumorleidens, jetzt aber wiederbelebt, in die Intensivstation einer Klinik ein. Dort wird sie einer Herzkatheteruntersuchung unterzogen und als Ursache des Geschehens ein ausgedehnter Herzinfarkt diagnostiziert. Vier Tage später wird sie bei anhaltender Bewusstlosigkeit erneut reanimiert. „Diesmal ohne Erfolg, Gott sei Dank“, so die bitteren Worte des Ehemannes.

Solche Vorgehensweisen stellen keineswegs Einzelfälle dar. Die Medizinethikerin Bettina Schöne-Seifert befragte Ärzte zu Therapieentscheidungen am Lebensende. Sie legte 74 Ärzten das folgende Szenario vor:

Bei einer 45-jährigen an Brustkrebs erkrankten Frau ist eine ausgedehnte Knochenmetastasierung diagnostiziert worden. Sie wird wegen einer tumorbedingten hohen Querschnittslähmung maschinell beatmet. Patientin und Ehemann sind über die schlechte Prognose informiert und machen sich hierüber keine Illusionen. Nach langem Besuch des Ehemannes bei seiner Frau bittet dieser den behandelnden Arzt mit tränenerstickter Stimme, seine Frau solle in Ruhe sterben dürfen. Sie habe ihn mit den Augen darum gebeten. Vor der Lähmung seien sich beide einig gewesen, dass an einem bestimmten Punkt keine weiteren Maßnahmen mehr ergriffen werden sollten.

Von den 74 befragten deutschen Ärzten würden 38, mehr als die Hälfte (!), die Beatmung in jedem Falle weiterführen, 17 die Beatmung ohne weitere Rücksprachen absetzen, 16 die Beatmung nach juristischer und/oder psychiatrischer Rückversicherung absetzen. 3 waren unentschieden.

Verwunderung ist angebracht ob des Gleichmuts und des Vertrauens, das Patienten und ihre Angehörigen im Falle aussichtsloser Erkrankung immer noch und immer wieder in Ärzteschaft und Medizin setzen. Auf der einen Seite sehen sie sich als Intensivpatienten oder Pflegebedürftige, wie die Prozesse um eine Krankenschwester einer großen Berliner Klinik und einen Altenpfleger einer gerontopsychiatrischen Pflegeeinrichtung in Süddeutschland erst jüngst wieder demonstrieren, von „Todesengeln“ umstellt, die nach eigenem Ermessen darüber entscheiden, wer wann ins Jenseits befördert wird. Eine Vorstellung, die schaudern lässt.

Auf der anderen Seite sind sie einer Ärzteschaft ausgeliefert, die sich von der Rechtsprechung zusehends in ihre Schranken weisen lassen muss, weil sie zu Tode Erkrankten zu sterben nicht gestattet. Vielmehr ist es an der Tagesordnung, solche Patienten ohne jede Aussicht auf Verbesserung der Lebensqualität oder Verlängerung der Lebenszeit diskussionslos mittels nicht indizierter Wiederbelebungsversuche, künstlicher Ernährung und Beatmung zu traktieren. Und das selbst dann noch, wenn sie in einer Patientenverfügung niedergelegt haben, was sie am Ende ihres Lebens wünschen oder nicht mehr wünschen.

Das Sterben von Frau S. und Herr K. sind Beispiele dafür, wie sehr die Medizin die Erfüllung ihres Auftrag missversteht und damit oftmals verfehlt: Es ist ein nicht nur unter deutschen Ärzten verbreiteter Irrtum, ihr berufliches Ethos allein darin zu sehen, Krankheiten zu heilen und Leben zu erhalten.

Dem heute so überaus offensiv verstandenen ärztlichen Auftrag, das Leben zu verlängern und seine Qualität zu verbessern, steht, dem ethischen Range nach, die Pflicht, für einen „guten Tod“ zu sorgen, in nichts nach. Dann nämlich, wenn sich die auf Lebenserhaltung zielende ärztliche Behandlung erschöpft hat und als Behandlungsziel ein würdiges und friedliches Sterben ganz in den Vordergrund rückt.

Sich dagegen immer und unter allen Umständen für den primär von Artikel 2 des Grundgesetzes geschützten Lebensschutz zu entscheiden, kann jedoch zu einem höherrangigen Gut, der von Artikel 1 geschützten Menschenwürde, in einen unüberbrückbaren Widerspruch geraten, so der Verfassungs- und Medizinrechtler Friedhelm Hufen.

Nicht jede Beendigung von Leben ist zugleich ein Eingriff in die Menschenwürde! Die Würde eines Menschen wird auch verletzt, wenn er zum willenlosen, passiven Objekt der Intensivmedizin gemacht wird, ohne dass der Fortsetzung der Behandlung noch irgendein seinerseits durch Lebensschutz und Menschenwürde gerechtfertigter Sinn abzugewinnen ist.

Dies geschah erst kürzlich wieder, als die Ärzte der Intensivstation einer großen deutschen Universitätsklinik eine tumorkranke 86-jährige Patientin zur Behandlung übernahmen. Die Frau war nach einer Operation anhaltend bewusstlos. Vergeblich hatte ihre Nichte versucht, für ihre Tante deren eindeutig gefasste Patientenverfügung den behandelnden Ärzten gegenüber durchzusetzen. In ihr hatte sie für den nun eingetretenen Fall niedergelegt, auf jede lebensverlängernde Maßnahme zu verzichten, insbesondere auf künstliche Beatmung und andere Intensivmaßnahmen.

Mit dem absurden Hinweis, sie seien keine Euthanasieärzte, wurde ihr berechtigtes Anliegen zurückgewiesen. Erst als die Nichte die Verlegung ihrer Tante in eine andere Einrichtung durchsetzen konnte, war es möglich, die künstliche Beatmung einzustellen und die alte Dame sterben zu lassen. Gegen die verantwortlichen Ärzte erstattete die Nichte mit Hilfe einer in diesen Fragen erfahrenen Anwaltskanzlei zu Recht Strafanzeige wegen Körperverletzung. Der Prozess dürfte demnächst eröffnet werden.

Für Patienten folgenreiches Fehlverhalten ist in der Medizin vielfach auch bei der Frage anzutreffen, ob Menschen in der Endphase ihrer Krankheit künstlich ernährt werden sollen. Dem kaum Widerspruch duldenden Satz: „Wir dürfen Sterbende doch nicht verhungern und verdursten lassen“, liegt ein nur schwer korrigierbares Missverständnis zugrunde, das sich von der eminent bedeutsamen biologischen und symbolischen Funktion der Nahrungsaufnahme herleitet.

Selbstverständlich ist auch im Sterben das subjektive Hunger- und Durstgefühl zu stillen. Die intuitive Annahme jedoch, von vielen Ärzten ebenso wie von Nicht-Ärzten, das körperliche und emotionale Wohlbefinden terminal Kranker und Sterbender sei darüber hinaus mit künstlicher Zufuhr von Kalorien und Flüssigkeit über Sonden und Katheter zu erhalten oder zu erhöhen, ist schlichtweg ein Irrtum. Nicht selten liegt hier sogar die (Mit)Ursache eines qualvollen Sterbens.

Im Gegenteil: Die Minderung und Einstellung der Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme ist nicht nur Teil des natürlichen Sterbens. Sie führt zudem, wie Forschungsergebnisse zeigen, zur Bildung von Stoffen, die einen geradezu erwünschten beruhigenden und schmerzlindernden Effekt haben.

Soweit heute ärztliches Handeln und Entscheiden am Lebensende in der Kritik steht, geht es um nicht weniger als darum, dem Anspruch unserer Verfassung, die Würde des Menschen als sein höchstes Gut zu schützen, zu seiner vollen Geltung zu verhelfen. Das in den letzten Monaten viel diskutierte Instrument der Patientenverfügung ist unter bestimmten Bedingungen eine sinnvolle Hilfe, reicht aber hierzu allein nicht aus. Vielmehr bedarf es innerhalb der Medizin neuer Weichenstellungen, die tief in ihr Selbstverständnis hineinreichen: Zum einen muss ein Perspektivwechsel ärztlichen Handelns stattfinden. Dies gilt prinzipiell für jede Behandlung, besonders aber für die von sehr schwer und aussichtslos erkrankten Patienten. Nicht die Frage: Dürfen wir Ärzte mit einer bestimmten Behandlung, etwa der Beatmung oder künstlichen Ernährung eines Patienten, aufhören, ist zu stellen.

Vielmehr hat die Frage jeden Tag aufs Neue zu lauten: Dürfen wir noch weitermachen? Ist das, was unserer festen Überzeugung nach gestern noch zum Wohle unseres Patienten war, auch heute noch zu seinem Guten? Oder finden wir heute Bedingungen vor, die eine wie auch immer beschaffene Korrektur unserer Entscheidungen erforderlich machen? Die Behandlungsziele sind also im Laufe der Behandlung immer wieder zu überprüfen und kritisch zu reflektieren. Doch solches wird – schon oft wurde es beklagt – weder dem Medizinstudenten vermittelt noch dem Arzt in der Weiterbildung.

Ja, ein 86-jähriger alter Mann, der glaubhaft zu verstehen gegeben hat, dass er müde geworden ist am Leben und sterben möchte, darf an einer inneren Blutung sterben, auch angesichts eines hochgerüsteten Medizinbetriebs. Zumal der Verblutungstod ein schneller, schmerzfreier und friedlicher ist, ein Tod wie ihn sich jedermann wünscht. Gleiches gilt für Ilse K., die durch eine plötzliche, infolge eines Herzinfarktes auftretende Rhythmusstörung von ihrem tödlichen Leiden fast erlöst worden wäre. Wäre da nicht der reflexhaft und arrogant agierende Notarzt gewesen.

In aussichtsloser Krankheit sollte jeder Mensch lernen, loszulassen. Gleiches jedoch gilt auch für die Ärzteschaft: Auch sie muss lernen, wenn ihr therapeutisches Bemühen im Sinne der Heilung an eine Grenze gekommen ist, zum richtigen Zeitpunkt loszulassen, um einem friedlichen Sterben den Vortritt zu lassen. Andernfalls könnte etwas Unerträgliches Raum greifen: dass der Arzt vom Freund des Patienten zu seinem Gegner würde.

Der Autor leitet die Rettungsstelle des Vivantes-Klinikums Am Urban in Berlin-Kreuzberg.

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