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Gesundheit: "Studium Fundamentale": Bewässern der Kulturwüste

Müssen Universitäten gut riechen? Das mag eine merkwürdige Frage sein, aber wer frohen Mutes die Tür zum Hauptgebäude der Privatuniversität Witten / Herdecke öffnet, der sollte besser kein Zahnarzt-Trauma mitbringen.

Müssen Universitäten gut riechen? Das mag eine merkwürdige Frage sein, aber wer frohen Mutes die Tür zum Hauptgebäude der Privatuniversität Witten / Herdecke öffnet, der sollte besser kein Zahnarzt-Trauma mitbringen. Denn in dem hellen, aber etwas kalten Neubau finden sich die Zahnklinik sowie die meisten Fakultäten und die Verwaltung unter einem Dach. Patienten mit dicken Backen, Ärzte, Studierende und Dozenten aller Fakultäten laufen sich hier über den Weg. Die Veranstaltungen der "Bürgeruniversität" sollen dafür sorgen, dass nicht nur der von Zahnschmerzen geplagte Normalsterbliche den "Elfenbeinturm" besucht.

Von der weiträumigen Halle dieser ungewöhnlichen Begegnungsstätte gehen rechts und links auf verschiedenen Ebenen Räume ab, die hier sinnigerweise "Zähne" genannt werden. In einem dieser "Zähne" hat sich der Komponist und Dirigent Elmar Lampson eingerichtet. "Ich studiere Dekanat im dritten Semester", sagt der Professor für Phänomenologie der Musik lachend. Lampson leitet das Studium Fundamentale (StuFu), eine der Einrichtungen, die Witten / Herdecke vom staatlichen Hochschulbetrieb unterscheidet. Alle Studierenden - seien es Mediziner, Zahnheilkundler, Wirtschafts- oder Naturwissenschaftler - müssen in Grund- und Hauptstudium jeweils einen Leistungsnachweis im Studium Fundamentale erbringen: Eine wissenschaftliche Hausarbeit, der andere Schein kann auch auf künstlerische oder praktische Weise erworben werden.

Das Lehrangebot lebt von seiner Vielfalt: Die Palette reicht von philosophischen Seminaren und musikalischen Übungen bis hin zum zweisemestrigen Modul "Tai Chi Chuan und die Entdeckung der Langsamkeit". Lehrende aller Fakultäten und Gastdozenten bieten die Veranstaltungen an. Frontalunterricht ist die Ausnahme, "wir bevorzugen ein dialogisches Arbeitsprinzip", sagt Lampson. Für Sebastian Ivens, Student der Medizin im fünften Semester, bietet das Studium Fundamentale die Chance, "sich nicht total in ein Fachgebiet zu verrennen". Ivens spielt Bratsche im Orchester, belegt ein Seminar über die Philosophie des Aristoteles und ein Kammermusik-Projekt.

Mediziner bearbeiten Steine

Auch Hans-Christian Lux, ebenfalls Medizin-Student, nutzte das allgemein bildende Angebot nicht nur als lästige Pflicht: Neben einem historischen und rechtswissenschaftlichen Seminar befriedigte er in der Übung "Formbildungen in Stein" sein Bedürfnis nach kreativer Handarbeit. Vor allem schätzt er am Studium Fundamentale, dass der Kontakt zu anderen Fakultäten erleichtert wird: "Man begegnet hier Leuten, die man sonst nie trifft."

Doch wozu sollen Mediziner lernen, Bratsche zu spielen und Steine zu bearbeiten? Wenn man schon die festgetretenen Fach-Pfade verlassen möchte, warum dann nicht auf wenigstens naheliegenden Abwegen? Natürlich gibt es das auch: In diesem Sommersemester steht eine virtuelle Werbeagentur im Vorlesungsverzeichnis. "Wir entwickeln ein Marketingkonzept für den Smart. Natürlich rennen da alle Wirtschaftswissenschaftler hin", sagt Elmar Lampson. Dem Dekan ist das "nicht so recht". Das Studium Fundamentale habe "nicht primär die Aufgabe, das Allgemeinwissen zu verbreitern, sondern Horizonte zu erweitern, Anstöße zu geben". Wenn sich Studenten mit Themen anderer Fachgebiete beschäftigen, "können sie eine Differenz aufmachen zu dem, was sie sonst tun. Sie können die eigenen Methoden kritisch hinterfragen. Oder sie lernen mit der Kunst ein der Wissenschaft entgegenstehendes Gebiet kennen. So etwas bildet die Persönlichkeit."

Lampson ist davon überzeugt, dass die kulturwissenschaftlichen Angebote hoch aktuell sind. Vor kurzem war er bei einer großen Firma in München zu einem Vortrag eingeladen. "Die Leute dort erleben ihre Arbeit als Kulturwüste", beschreibt er seine Eindrücke. Auf lange Sicht könne ein Wirtschaftssystem nicht erfolgreich sein, das so nachlässig mit der Kreativität umgehe.

Kultur mischt Techniker auf

Der Anspruch der 1983 eröffneten Privatuniversität, anregend auf die staatlichen Hochschulen zu wirken, wurde sicher nur zum Teil eingelöst. Und die eigene Finanzkrise konnte ohne staatliche Unterstützung auch nicht bewältigt werden. Immerhin fördert das Land Nordrhein-Westfalen die Uni Witten/Herdecke jährlich mit rund zehn Millionen Mark. Doch manche Impulse wurden gesetzt: Das Studium Fundamentale hat Nachahmer gefunden, so an der jüngst gegründeten Universität Erfurt (dort allerdings nur im Grundstudium). Auch an der Universität Stuttgart sollen Leistungsnachweise in den jeweils anderen Wissenschaftskulturen verbindlich werden. Wittens Ex-Präsident Konrad Schily nennt vor allem die Master-Programme des Northern Institute of Technology, einer privaten Ausgründung der TU Hamburg-Harburg, als Beispiele für die Integration kulturwissenschaftlicher Elemente.

Private Hochschulen haben freilich "sehr gute Startbedingungen", weil sie die Studenten selbst aussuchen können, sagt Lampson. Die Folge sei ein "größeres Maß an Eigenverantwortlichkeit und Interesse an dem Besonderen". Das drückt sich in Witten/Herdecke nicht nur in dem von den Studierenden entwickelten Finanzierungsmodell für die Studiengebühren (29 700 Mark) aus, sondern auch darin, dass Studenten selbst Lehrveranstaltungen im Studium Fundamentale anbieten. Elmar Lampson schätzt, dass sich von den 1000 Studenten etwa ein Fünftel intensiv mit dem kulturwissenschaftlichen Angebot auseinandersetzt. Auch die Gruppenstärken (im Schnitt 15 bis 20 Personen) der einzelnen Veranstaltungen im Studium Fundamentale sind kaum zu unterbieten.

Die Privatuni macht aus nichts viel

Dass das allgemeinbildende Studium in Witten "von Anfang an mitgewachsen ist, ist eine Tatsache, die nicht so leicht einzuholen ist". Dennoch glaubt Elmar Lampson, dass auch an den großen Universitäten, über die bestehenden "zarten Ansätze" hinaus und abgewandelt auf die dortigen Bedingungen, manche Veränderungen möglich seien. Als eigenständige Fakultät besteht das Studium Fundamentale seit 1993, und Elmar Lampson spricht daher noch von einer "intensiven Aufbauphase". Profil will die Fakultät durch einen eigenen Studiengang ("Kulturwissenschaften und Management") mit Bachelor-Abschluss gewinnen. Auch in der Forschung will das Wittener Studium Fundamentale eigene Akzente setzen - mit einem Graduiertenkolleg "zum Themenbereich des Nicht-Wissens". Die besondere Situation in Witten müsse auch besondere Forschungs- und Kunstansätze hervorbringen. Der Dekan rechnet bereits vor, dass das Budget bei einem derartigen Forschungs- und Lehrehrgeiz verdoppelt werden müsse. "Wir machen aus Nichts im Moment sehr, sehr viel."

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