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Vor allem die Unterstützung durch Angehörige kann Suizid vorbeugen

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Suizid: Netzwerk der Lebensretter

Suizidgefährdete sind meist psychisch krank. Ein stabiles soziales Umfeld könnte solche Taten verhindern, ein nationales Hilfsprogramm schwere Krisen bewältigen helfen. Die Idee ist gut, die Umsetzung scheint schwierig.

In den Allgäuer Bergen steigt ein Mann langsam empor, gebeugt von Alter, Krankheit und tiefer Niedergeschlagenheit. Er hat gerade seine Frau verloren und will nun auch nicht mehr leben. Wenige Meter vor der Felskante, über die er sich in den Abgrund stürzen will, versagen ihm die Beine: psychogene Lähmung. Ein seltenes und desto eindruckvolleres Beispiel für die Ambivalenz Lebensmüder, für die zwei Seelen in ihrer Brust: Die eine sucht den Tod, die andere hängt am Leben.

Die Fallgeschichte stammt aus einem Vortrag des Bayreuther Psychiaters, Psychotherapeuten und Suizidforschers Manfred Wolfersdorf, den dieser auf der Jahrestagung der „Aktion Psychisch Kranke“ gehalten hat. Der Verein, 1971 von Fachleuten und Politikern gegründet, hat die Psychiatriereform in Deutschland auf den Weg gebracht. Tagungsthema war diesmal „Ambulante Hilfe bei psychischen Krisen“.

Welche Krise könnte schwerer sein als die, in der jemand als Ausweg nur noch den Tod sieht? Wolfersdorf möchte nicht von „Freitod“ sprechen. Denn für die meisten sei Selbsttötung „kein Ausdruck von Freiheit und Wahlmöglichkeit, sondern von Einengung durch objektive und subjektiv erlebte Not“. Es geht also um Menschen in äußerster Bedrängnis, die dringend Hilfe brauchen, nicht um „Mörder“, die man früher außerhalb der Friedhofsmauern verscharrte. Heute spricht man nicht mehr von „Selbstmord“, sondern von „Selbsttötung oder „Suizid“.

In Deutschlad sterben jedes Jahr mehr Menschen durch Suizid als durch Aids, Verkehrsunfälle und Mord zusammengenommen

Jedes Jahr sterben etwa eine Million Menschen von eigener Hand. Selbsttötung ist weltweit die zehnthäufigste Todesursache, stellt die Weltgesundheitsorganisation fest. In Deutschland sterben jährlich rund 10 000 Menschen durch Suizid – das sind mehr Todesfälle als durch Aids, Drogen, Verkehrsunfall, Mord und Totschlag zusammen. Hinzu kommen weit über 100 000 Selbsttötungsversuche im Jahr. Auch an europäischen Zahlen zeigt Wolfersdorf die Dimension des Problems: Von 100 000 EU-Bürgern sterben zwölf durch Suizid.

Warum? Neunzig Prozent der Todesfälle liegen psychosoziale Krisen oder psychische Krankheiten zugrunde, meist Depressionen oder Sucht. Zu den äußeren Risikofaktoren gehört die Bedrohung der wirtschaftlichen Existenz. Wolfersdorf zitiert eine Studie, die Daten aus 46 EU- Ländern ausgewertet hat. „Mit jedem Prozent mehr an Arbeitslosigkeit steigt die Suizidzahl der unter 65-Jährigen um 0,8 Prozent.“ Auch sehr erfolgreiche, selbstbewusste Männer, die ihren Abstieg nicht verkraften, gehen in den Tod. Das „starke Geschlecht“, das keine Schwäche zeigen kann und stumm leidet, führt die Risikogruppe der besonders Gefährdeten an: Es töten sich etwa dreimal so viele Männer wie Frauen. Im Alter nehmen die Suizide unter Männern und Frauen deutlich zu, wenn chronische Krankheiten, Vereinsamung, Hoffnungslosigkeit überhand nehmen.

Kaum jemand bringt sich um, wenn es eine wichtige Person gibt, die ihn liebt

Vor allem die Unterstützung durch Angehörige kann Suizid vorbeugen
Vor allem die Unterstützung durch Angehörige kann Suizid vorbeugen

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Um die vermutete Suizidgefährdung eines Menschen zu erkennen, ist es nach Wolfersdorf notwendig, mit dem- oder derjenigen offen zu sprechen und direkt nach Nöten und auch Todeswünschen zu fragen. Und sollte jemand von sich aus darüber reden, muss man das unbedingt ernst nehmen. Neben einer kompetenten und kontinuierlichen Behandlung psychischer Störungen können vor allem Faktoren aus dem Umfeld schützend und präventiv wirken: stabile, stützende Beziehungen (Familie, Freunde, Selbsthilfegruppe), darunter ein absolut verlässlicher Ansprechpartner, notfalls der Therapeut. Wolfersdorf zitiert einen Satz des österreichischen Arztes und Freud-Schülers Paul Federn: „Kaum jemals bringt jemand sich um, solange eine Person, die für den Gefährdeten maßgebend ist, oder eine Person, die er liebt, ihn, so wie er ist, am Leben erhalten will, und das unter allen Bedingungen.“

Außer privaten können auch gesamtgesellschaftliche Anstrengungen im Sinne von Public Health viel dazu beitragen, Gefährdeten das Leben zu retten. Auf Betreiben der seit über 50 Jahren bestehenden „Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention“ wurde 2001 das „Nationale Suizid-Präventionsprogramm für Deutschland“ in die Wege geleitet (www.suizidpraevention-deutschland.de). In kurzer Zeit konnten etwa 90 Institutionen eingebunden werden, darunter Ministerien, Fachgesellschaften, Verbände, Kirchen, Selbsthilfevereinigungen, außerdem über 200 aktive Mitarbeiter. 19 relativ autonome Arbeitsgruppen befassen sich mit Themen wie Suizidprävention bei Kindern und Jugendlichen, am Arbeitsplatz oder bei alten Menschen. Spontane Verzweiflungstaten wie Sprünge von Brücken oder vor fahrende Züge sollen durch Kooperation mit der Bahn und mit Brückenkonstrukteuren erschwert werden, Apotheker sollen dazu gebracht werden, keine Großpackungen riskanter Medikamente mehr abzugeben.

Lehrer wagen es nicht einmal, im Unterricht Goethes "Werther" zu behandeln

Eine schnelle Akutversorgung bei (drohendem) Suizidversuch und bessere Vernetzung aller Hilfseinrichtungen sind weitere Ziele. Als zentrale Aufgabe des Programms gelten Aufklärung der Bevölkerung und Schulung der Berufsgruppen, die mit Suizidgefährdeten in Kontakt kommen. Wie sehr aber solche Konzepte noch mit der Realität kontrastieren, zeigen Beispiele, die Georg Fiedler, zweiter Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention, in seinem Vortrag erwähnt. So hatten laut Fiedler drei von vier durch Suizid Gestorbene in den Wochen davor einen Arzt aufgesucht. Aber ihre Selbsttötungsabsichten kamen dabei nicht zur Sprache. Selbst akut Gefährdete wurden von mehreren Kliniken hintereinander abgewiesen. Und selbst nach einer erfolgreichen Krisenintervention ist eine kontinuierliche Behandlung oft nicht möglich. Das Warten auf eine ambulante psychiatrische oder psychotherapeutische Behandlung kann Monate dauern. Die Betroffenen sterben auf der Warteliste.

Und wie steht’s um die frühe Prävention an den Schulen? Denkbar schlecht, so Fiedler: „Es ist ein fast aussichtsloses Unterfangen, das Problem in die Lehrerbildung hineinzubringen.“ Wie notwendig das wäre, zeigte Schmidtke an einem Beispiel: Erst nach der vierten Selbsttötung in einer Klasse holte die Schule professionelle Hilfe. Und auch, wenn noch nichts passiert ist: „Die Lehrer haben Angst, an dem Problem zu rühren.“ Manche wagen es nicht einmal, den „Werther“ zu behandeln.

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