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Gesundheit: Theoretisch ist die Nuklear-Technik vielleicht sicher - in der Praxis nicht (Gastkommentar)

Die Bilder aus Tokaimura hatten etwas merkwürdig Vertrautes, als würde ein bekanntes Stück auf einer neuen Bühne aufgeführt. Feuerwehrleute mit Strahlenanzügen und schwerem Atemschutz, Lautsprecherwagen in menschenleeren Straßen, die angsterfüllten Augen der Strahlenopfer, beschwichtigende Gesten der Politiker.

Die Bilder aus Tokaimura hatten etwas merkwürdig Vertrautes, als würde ein bekanntes Stück auf einer neuen Bühne aufgeführt. Feuerwehrleute mit Strahlenanzügen und schwerem Atemschutz, Lautsprecherwagen in menschenleeren Straßen, die angsterfüllten Augen der Strahlenopfer, beschwichtigende Gesten der Politiker. Nach Tschernobyl (1986) und Harrisburg (1979) war Tokaimura der drittschwerste Kernunfall der Geschichte. Dass sich dieser ausgerechnet im Hochtechnologie-Land Japan ereignet hat, muss selbst hartgesottene Verfechter der Kernenergie stutzig machen. Hat die Atomindustrie nichts dazugelernt? Doch, sogar eine ganze Menge. Nicht zuletzt als Reaktion auf die weltweiten Proteste wurde die Sicherheitstechnik seit den 80er Jahren mit enormem Aufwand weiterentwickelt. Kernkraftwerke können heute so gebaut werden, dass sie gegen Reaktorschmelze, Erdbeben, Flugzeugabstürze, Computerfehler und sogar menschliches Versagen gesichert sind. Nach Berechnungen der Deutschen Risikostudie Kernkraftwerke ist mit der seit Tschernobyl und Harrisburg gefürchteten Kernschmelze in einem modernen Atommeiler nur noch alle dreihunderttausend Betriebsjahre zu rechnen.

Die beruhigende Rechnung hat jedoch einen Haken: Die meisten real existierenden Kernkraftwerke wurden in den 70er Jahren gebaut und entsprechen bei weitem nicht den theoretischen Sicherheitsstandards. Und teure Nachrüstungen, wie sie in Deutschland größtenteils erfolgt sind, können sich gerade diejenigen Länder nicht leisten, in denen es am nötigsten wäre. So stimmte ausgerechnet der Direktor der Unglücksanlage von Tschernobyl nach der Havarie in Nippon in den internationalen Chor der Beschwichtiger mit ein und verkündete, dass man das dem Westen gegebene Versprechen, bis zum Jahr 2000 abzuschalten, aus finanziellen Gründen nun doch nicht vor 2011 einlösen könne. Im übrigen sei Tschernobyl, im Gegensatz zu Tokaimura, "sicher und kontrollierbar".

Die zynische Argumentation ist nicht einmal ganz von der Hand zu weisen. Tatsächlich lassen sich bereits bekannte Unfallursachen am ehesten vermeiden. So werden die Techniker in Tschernobyl wohl nicht noch einmal drei Viertel der minimal erforderlichen Kontrollstäbe aus dem Reaktor entfernen und zugleich alle Notkühlsysteme abschalten. Und in Harrisburg dürften wohl zusätzliche Sicherungen gegen den damals eingetretenen, gleichzeitigen Ausfall einer Kühlpumpe, eines Ablassventils und einer Kontrolleuchte eingebaut worden sein.

Der jüngste Atomunfall im Land der aufgehenden Sonne lehrt uns jedoch, dass der Zufall einfallsreicher ist als alle Sicherheitsexperten zusammen. Erstens ereignete sich das Unglück nicht in einem Kraftwerk, sondern in einer chemischen Produktionsanlage für Kernbrennstoffe, in der die für nukleare Reaktionen erforderliche "kritische Masse" eigentlich gar nicht erreicht werden dürfte. Da somit die strengeren Kontrollen entfallen, konnten die Betreiber, zweitens, die für maximal 2,4 Kilogramm Uranpulver ausgelegte Abfüllanlage abschalten und stattdessen im Handbetrieb mit einem Blecheimer 16 Kilogramm Uran auf einmal in den Reaktionsbehälter mit Salpetersäure kippen lassen. Diese rabiate Verkürzung des Produktionsprozesses ging wohl jahrelang gut, bis, drittens, der Gehalt an spaltbarem Uran-235 in einer Lieferung besonders hoch war, so dass sich vor den verdutzten Arbeitern das fahle, blaue Leuchten einer atomaren Kernreaktion entfachte.

Die Havarie macht auch deutlich, dass gerade die Ver- und Entsorgungsbetriebe sträflich unterschätzte Schwachstellen im Kreislauf der radioaktiven Spaltstoffe sind. In der ehemaligen Atomwaffenfabrik Hanford im Bundesstaat Washington versuchen die USA seit einem Jahrzehnt erfolglos, die verstrahlten Reste des Kalten Krieges zu entsorgen. Kopfzerbrechen bereiten unter anderem zwölf Tonnen hoch gefährliches Plutonium und 177 riesige, unterirdische Tanks mit einem teuflischen Gemisch aus radioaktiver Flüssigkeit, explosivem Gas, zähem Schlamm und steinhartem Uransalz. Da einige Behälter seit Ende der 50er Jahre undicht sind, ist das Grundwasser weiträumig verseucht. Aus Angst vor einer unkontrollierten Kettenreaktion in der brisanten Brühe musste das mit 45 Milliarden Dollar teuerste Umwelt-Projekt der Geschichte immer wieder unterbrochen werden.

Doch Hanford ist nur die Spitze des radioaktiven Müllberges. Die Gesamtkosten der auf 75 Jahre projektierten Entsorgung des zivilen und militärischen Atomabfalls der USA werden auf 190 bis 500 Milliarden Dollar geschätzt. Eine ähnliche Summe dürfte für die ehemalige Sowjetunion fällig sein. Für die deutsche Atomindustrie gäbe es also auch nach dem vehement bekämpften Ausstieg aus der Kernenergie noch einiges zu tun.Der Autor ist Direktor des Instituts für Medizinische Mikrobiologie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Alexander S. Kekulé

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