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Überlebensgeschichte. Bei Renate Ullman wurde vor zehn Jahren Aids diagnostiziert. Dank der Kombinationstherapie kann sie heute sogar noch reisen.

© Mike Wolff

Therapie: Geschenkte Jahre nach HIV-Diagnose

Dank Therapie können HIV-Infizierte heute mit der Krankheit alt werden – wenn sie kämpfen. Es gibt allerdings immer noch ein Stigma und Diskriminierung.

Renate Ullmann steckt sich erst mal eine Zigarette an. Dann ist sie gerüstet, um ihre Lebensgeschichte zu erzählen – ihre Überlebensgeschichte. Vor zehn Jahren bekam die gebürtige Wienerin, heute 62 Jahre alt, ihre HIV-Diagnose. Bis dahin hatte sie ein vielfältiges Leben geführt – als Leiterin eines Hotels in Tirol, als Kostümbildnerin, als Reiseleiterin in Europa und Asien. Gesundheitliche Beschwerden hatte sie schon lange vor der Diagnose: Brechdurchfälle und Lungenentzündungen. Aber sie glaubte damals, das liege an den Reisen. An Aids dachte sie nicht, schließlich hatte sie immer in längeren Beziehungen gelebt.

Im Jahr 2000 kam sie wegen Lymphdrüsenkrebs, der häufig bei HIV-Infizierten auftritt, ins Krankenhaus. Dort stellte sich heraus, dass Renate Ullmann bereits das Vollbild Aids hatte – mit nur noch sechs Helferzellen pro Mikroliter Blut. Angesteckt hatte sie sich wahrscheinlich bei einem Südafrikaner, mit dem sie acht Jahre zusammengelebt hatte. Sie bekam infolge der HIV-Infektion noch zahlreiche andere Krankheiten wie Hepatitis und Meningitis. Sie wurde nach Berlin zur Behandlung ans Klinikum Benjamin Franklin überwiesen. Dort blieb sie und kämpfte. Acht Chemotherapien hat sie sich bisher unterziehen müssen. Dank der antiretroviralen Therapie oder Kombinationstherapie bekam sie Aids einigermaßen in den Griff.

Diese Therapie hat die Krankheit für viele Patienten in eine chronische, nicht mehr unbedingt tödliche Krankheit verwandelt. Das bedeutet auch: Menschen können mit HIV alt werden. In den nächsten Jahren sollen bereits mehr als 50 Prozent der Infizierten älter als 50 sein. So steht es in der Einladung zum diesjährigen Berliner Kongress „HIV im Dialog“, der am nächsten Wochenende im Roten Rathaus genau diese neue Situation unter die Lupe nehmen will. „Die Lebenserwartung von HIV-Positiven kann inzwischen bis zu 70 Jahren betragen“, sagt Jens Ahrens von der Berliner Aids-Hilfe, die den Kongress mitveranstaltet. „Das eröffnet ganz neue Optionen, um das eigene Leben wieder zu gestalten.“

So frei wie gesunde Menschen sind HIV-Infizierte in ihren Möglichkeiten trotzdem nicht. Typische Alterserkrankungen wie Osteoporose oder kardiovaskuläre Beschwerden treten bei ihnen mit höherer Wahrscheinlichkeit auf. Die Langzeitwirkung der bei der Kombinationstherapie eingesetzten Wirkstoffe ist noch nicht gut erforscht. Auch Depressionen und Angsterkrankungen sind wahrscheinlicher. Und zumindest homosexuelle HIV-Positive haben in der Regel keine Kinder und müssen andere Wege finden, ihr Alter zu gestalten – zum Beispiel in Form von Wohnprojekten.

„Natürlich ist Älterwerden mit HIV keine Schönheitskur. Aber man kann es meistern, wenn man kämpft.“ Das sagt der ebenfalls HIV-infizierte Ben, der im Unterschied zu Renate Ullmann seinen richtigen Namen nicht nennen möchte. Auch er konnte dank der Therapie sein Leben einigermaßen stabilisieren. Ben ist weder depressiv noch ängstlich. Er hat eine gewisse Abgeklärtheit erreicht, kann manches sogar mit Humor nehmen. Und er macht noch Pläne: Die geschenkten Jahre würde Ben gerne auf einem Bauernhof in Brandenburg verbringen. Aber natürlich müsste die medizinische Versorgung gewährleistet sein.

Auch wenn es schon lange her ist, an die HIV-Diagnose erinnert Ben sich ganz genau: „Ich bekam mein positives Testergebnis am 4. Februar 1994 um 10 Uhr, das werde ich nie vergessen“, erzählt der 52-Jährige Kreuzberger. „Es war, als flöge ich mitsamt dem Stuhl rückwärts zur Tür raus.“ Es folgten zwei schlimme Jahre, die antiretrovirale Therapie gab es zu diesem Zeitpunkt noch nicht, nur AZT (Azidothymidin) mit all seinen Nebenwirkungen, doch das nahm Ben nicht: „Ich sah damals, dass diejenigen, die die Pillen schluckten, alle starben, während die Renitenten lebten.“ Als 1996 die Kombinationstherapie eingeführt wurde, die mindestens drei antiretrovirale Medikamente vereint, gehörte er allerdings zu den Patienten der ersten Stunde. Heute nimmt Ben zwei Mal am Tag vier Tabletten, bekommt eine Rente und arbeitet trotzdem in der Berliner Aids-Hilfe.

„Viele HIV-Positive wollen aus der Rente raus. Aber die meisten können nur Teilzeit arbeiten, was bei vielen Arbeitgebern gar nicht vorgesehen ist. Da müssen wir noch viel Überzeugungsarbeit leisten“, sagt Jens Ahrens. Auch Versicherungen müssten erkennen, dass ein HIV-positive Mensch wieder versicherbar ist. „Es gibt immer noch ein Stigma und Diskriminierung“, meint er. Renate Ullmann und Ben erzählen Ähnliches: „Was das Altern mit HIV erschwert, ist der Blick der Öffentlichkeit auf die Krankheit. Der hat sich nicht geändert, er entspricht immer noch dem Plakat, mit dem die Firma Benetton in den frühen 90er Jahren für sich geworben hat, indem es einen Aids-Kranken auf dem Sterbebett abgebildet hat.“ Natürlich gibt es weiterhin Patienten, denen es richtig schlecht geht, die nicht mehr sprechen können, die blind werden, auch weil sie aufgrund von Depression die Medikamente nicht nehmen.

Renate Ullmann muss 22 Tabletten am Tag schlucken, drei davon gegen HIV, der Rest gegen andere Krankheiten. In ihren Augen blitzen vor allem dann flüchtige Glücksgefühle auf, wenn sie von ihren beiden Enkelkinder in Wien spricht, die sie rund vier Mal im Jahr sieht. Die Kinder wissen, dass ihre Oma krank ist. Die Mutter, Renates Tochter, hat sie über HIV aufgeklärt und darüber, dass man sich nicht bei Umarmungen anstecken kann. Auch wenn sie nicht gerade an ihre Familie denkt, hat Renate Ullman gut zu tun. Gerade ist sie von der HIV-Selbsthilfekonferenz in Bielefeld zurück gekommen, ihre Lebensgeschichte ist kürzlich – gemeinsam mit 15 anderen – in dem Buch „Positiv. Leben mit HIV und Aids“ (Balance Verlag) erschienen. Jetzt bereitet sie wieder eine Reise vor – nach Thailand. Denn Pläne kann sie wieder machen. Nur die Pillen müssen alle mit.

Der Kongress „HIV im Dialog“ findet am 17. und 18.9. im Roten Rathaus statt. Der Eintritt ist frei, www.hiv-im-dialog.de

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