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Gesundheit: Über Grenzen

Mehr als Schleuser und Schmuggler: Zwischen West und Ost bewegt sich viel. Ein Plädoyer für spannende Passagen

Grenze, im Russischen und Polnischen: granica, ist eine der wenigen slawischen Vokabeln, die ins Deutsche Eingang gefunden haben. Das mag seine Bedeutung haben. Grenzüberschreitung ist in Europa, besonders in Mitteleuropa, etwas geradezu Alltägliches. Durch jene großen Veränderungen, die mit der Jahreszahl 1989, also mit einem Epochenende bezeichnet sind, ist das Thema der Grenze und der Grenzüberschreitung zu einer ganz neuen Aktualität gelangt. 1989 ist gefasst worden als das definitive Ende des Kalten Krieges, als das Ende der Teilung Europas, als Ende der Nachkriegszeit und folglich als Neuordnung auch der räumlich-territorialen Verhältnisse, die damit gegeben waren. Die Grenzen, innerhalb derer wir bis dahin gelebt haben, die unseren Erwartungshorizont, den Radius unserer Aktivitäten definiert hatten, haben sich verändert. Der Raum, in dem die Europäer bis dahin, mehr als ein halbes Jahrhundert gelebt hatten, war zusammengebrochen, ein neuer begann sich zu bilden.

Die tagespolitische Aktualität der Visavergabe, von Schleusern, Illegalität und Kriminalität ist in Frankfurt (Oder) allgegenwärtig. Als Leser der Lokalzeitungen erfährt man hier fast jeden Tag etwas Neues: über die List, die erforderlich ist zur Überschreitung einer ziemlich gut bewachten Grenze; über die Differenz der Preise von Zigaretten in verschiedenen Ländern; über das Raffinement der Schmuggler – sei es von Ikonen oder Jagdfalken. Die Journalisten haben längst den Sexappeal, den Kick, die erhöhte Temperatur an der Grenze herausgefunden. Hier gibt es immer etwas zu berichten über Prostitution, Nachtklubs, Autoschiebereien, Bestechung, und über die Melancholie der Straßenmusikanten auf der polnischen Seite der Brücke, die freilich alle von weither kommen: aus Galizien, aus Moldawien, aus der Gegend um Minsk. Grenzen sind ein anregendes Mikroklima, es gibt einen Eros der Grenze. An Grenzen ist eine Welt nicht zu Ende, sondern fängt eine andere an. Man hat es an einem Ort immer schon mit zwei Welten zu tun. Das ist eigentlich spannend und steht zu einer nicht wenig verbreiteten Jammerstimmung an der Grenze in Widerspruch.

Die Bürger Zentraleuropas sind Spezialisten in Sachen Grenze und Grenzüberschreitung. Sie haben viel Lebenszeit mit Grenzübertritten und den dafür notwendigen Prozeduren und Ritualen verbracht und verbraucht. Sie haben Stunden, zusammengerechnet vermutlich Tage an Grenzübergangsstellen verbracht. Sie sind fast berufsmäßige Komparatisten, die ihre Feldstudien in höchster Aufmerksamkeit, ja Anspannung durchgeführt haben. Sie haben verglichen: worin sich Berlin-Friedrichstraße von Dover-Calais unterschied und dieses wiederum von Odessa-Istanbul.

Wir können unterscheiden zwischen der Entstehungszeit einer Grenze und ihrer Verfallszeit, denn wir haben den Bau der Mauer von Berlin und ihre Perfektionierung und ihre Demontage binnen weniger Tage mit angesehen. Wir haben verstanden, dass man per Ukas eine Mauer errichten kann, die man innerlich nie akzeptieren wird. Aber dann leben wir mit der Mauer im Kopf noch Jahre, nachdem sie längst abgerissen ist. An der Grenze hatte man es noch im entferntesten Winkel mit den Auswirkungen der Weltpolitik zu tun, und jede Veränderung der Großwetterlage hatte dort unmittelbare Auswirkungen. Wir sollten diese Erfahrung nicht vergessen: Grenzüberschreitung war ein rite de passage sui generis.

In dem Europa, das in die Zeit nach der Großen Grenze entlassen ist, ist alles in Bewegung geraten: Das fängt an mit dem Raum, in dem wir leben. Das Verschwinden der Mauer konstituiert einen anderen Raum. Von Berlin nach Posen sind es etwas mehr als zwei Stunden Fahrtzeit. Es gibt die Grenze als Zone des angehaltenen Atems, der Einschüchterung, der Umstellung der inneren Uhr, der Demütigung durch die Beamten nicht mehr. In Hegyeshalom, Cheb und Zgorzelec kann man noch die Ruinen der bürokratischen Reiseerschwerung besichtigen, Helmstedt ist bloß noch ein Parkplatz oder ein schönes Städtchen, von dem nur ältere Reisende wissen, dass es einmal mehr war: Grenzschleuse zwischen den Welten.

Der Raum, in dem wir arbeiten, uns erholen, studieren, leben, wird anders – damit auch die Welt in unserem Kopf. Der Tourist, der etwas erleben will, geht in die Nachbarschaft, nicht unbedingt nach Übersee. Nachdem man New York gesehen hat, kann man sich Prag vornehmen. Man ist auch aus Arbeits- und Geschäftsgründen unterwegs. Man lernt sich kennen, unabsichtsvoll, einfach so – beim Einkaufen, Studieren, im Urlaub, auf Arbeitssuche. Eine exotische Zone, über die böse und sympathische Vorurteile geherrscht haben, löst sich auf, und es bilden sich neue Urteile und Vorurteile.

Es entstehen neue Wirtschaftsräume. Man merkt es auf der Autobahn, man merkt es an der Beschleunigung des innereuropäischen Austausches, an den LKW-Kolonnen aus Polen, Skandinavien, Südosteuropa, die auf dem Berliner Ring aufeinander treffen. Grenzländer werden wieder zu Achsen intensivierten Menschen- und Güterverkehrs.

Das feinste Barometer für die Ausbildung des neuen Raumes ist die Warenzirkulation, die millionenfache Vermittlung von Allerweltsgegenständen, die Bewegung der Händler zwischen St. Petersburg und Berlin, zwischen Istanbul und Odessa, zwischen Posen und Rotterdam, zwischen Sinkiang und Kasachstan. Die alten Routen – die Bernsteinstraße, die Seidenstraße – werden wieder in Betrieb genommen. Die Staus an der Grenze zeigen, dass das Straßen- und Schienensystem dem gesteigerten Bedürfnis nach Austausch nicht mehr genügt.

Block-Europa von einst ist in einen Archipel zerfallen und fügt sich neu. Regionen driften auseinander, andere wachsen zusammen. Die Grenze verschwand, sie kehrte wieder in anderer Form. Das Verschwinden der großen Grenze gibt den Blick frei auf eine Kluft, die nachhaltiger ist als das martialische Bauwerk mit Wachtürmen und Stacheldraht. Am Rande Europas sind in den 1990er-Jahren neue Grenzen zwischen neuen Staaten mit Abertausenden von Flüchtlingen und Toten gezogen worden. Die Front, die tödliche Form der Grenze, war nach Europa zurückgekehrt.

Die maßgebliche neue Teilung ist jedoch eine andere. Sie drückt sich aus im digital gap. Europa teilt sich neu in die Zonen der Hochgeschwindigkeit, des Hightech, der rasenden Beschleunigung und hoch verdichteten Kommunikation und jene weiten Zonen, die abgehängt werden, nicht mithalten können. Ein neues Gefälle deutet sich an, nun nicht mehr an der Grenze zwischen den Staaten, sondern entlang der „metropolitan corridors“, die Europa durchschneiden – von den Midlands über die Rheinschiene bis nach Mailand und Barcelona, oder von Rotterdam über Berlin nach Warschau und Moskau. Die Globalisierung schafft sich ihr eigenes Territorium, ihre eigene Territorialität mit ganz eigenen Grenzen, die nicht mehr identisch sind mit den Grenzen der Nationalstaaten.

Man kann die Grenze sehen, wenn man nachts über Europa hinwegfliegt, etwa von London nach Moskau: Der Korridor glitzert wie eine Perlenschnur in einem weithin verdunkelten Gelände. Vielleicht entzünden sich an den Grenzen und Kanten der metropolitan corridors die Konflikte der Zukunft weit mehr als an den wohl installierten Grenzübergängen von einst. Man kann schon jetzt einen Vorgeschmack über die Formen und Praktiken der Grenzüberschreitung des 21. Jahrhunderts bekommen, wenn man in das Land des 11. September reist. Europa steht bevor, was dort schon eingeübt und Routine geworden ist. Die neue Technologie der Grenzüberschreitung und Grenzkontrolle mit Biometrik, Kamera, fingerprint. Es gibt eine neue Stufe von Surveillance, des Durchschleusens, der Kontrolle, des Auf-Nummer-Sicher-Gehens. Diese fängt nicht erst am Kontrollpunkt an, sondern lange davor: in der Schlange vor dem Konsulat oder der Visastelle. Wir wissen alle, was der Grund dafür ist: die neue Lage nach dem 11. September, der einen neuen Kampfplatz mit neuen Grenzen und Frontlinien hat entstehen lassen.

Der Autor ist Professor für Osteuropäische Geschichte an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). Dieser Artikel beruht auf seinem Eröffnungsvortrag zum Mediävistenkongress, der noch bis zum 17. März an der Viadrina tagt.

Karl Schlögel

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