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Gesundheit: UNIKATE: Blutrote Spuren

Der Koppenplatz im ehemaligen jüdischen Scheunenviertel. Eine außergewöhnliche Litfaßsäule stand dort drei Wochen lang, die sich von üblichen Plakatträgern mit ihren bunten, um Aufmerksamkeit buhlenden Werbebotschaften abhob.

Der Koppenplatz im ehemaligen jüdischen Scheunenviertel. Eine außergewöhnliche Litfaßsäule stand dort drei Wochen lang, die sich von üblichen Plakatträgern mit ihren bunten, um Aufmerksamkeit buhlenden Werbebotschaften abhob. Über und über bedecken in roter, wasserlöslicher Farbe gedruckte Namen die Fläche. Es sind exakt 55 696, in alphabetischer Reihenfolge: die Namen aller deportierten und ermordeten Juden Berlins. Anfangs sind sie klar zu lesen. Neugierige Passanten hinterlassen erste Fingerabdrücke, verwischen die Namenszüge. Die Schrift beginnt zu zerfließen. Regen löscht sie aus und hinterläßt blutrote Verlaufsspuren.

"Abwaschbare Namenssäule" nennen So-Hyon Choe, Sebastian Lemm und Nina Sickert ihr Projekt. Entwickelt und realisiert haben sie es im Rahmen eines Seminars zum Thema "Stadtmöblierung" im Fachbereich Visuelle Kommunikation der Hochschule der Künste.

Wir sitzen gegenüber der HdK im Café und klappen die Projektmappe mit den Fotografien ihrer Aktion wieder zu. Auf einigen ist Ignatz Bubis zu sehen. Der Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland nahm sich trotz Termindrucks Zeit, auf dem Koppenplatz vorbeizuschauen und wurde spontan Schirmherr der Namenssäule.

Die positive Resonanz beschränkt sich nicht auf die Jüdische Gemeinde und zahlreiche Politiker. Zum "Forum Typografie" wurden die Studenten eingeladen. Das "NomadenHeft" übernahm einen Namensdruck in seine Kunstedition, und die Künstler stehen im Jahrbuch "output" für prämierte internationale Arbeiten im Grafikdesign.

Nun werden So-Hyon Choe, Sebastian Lemm und Nina Sickert für ihr Projekt vom Verband der Grafik-Designer e.V. mit einem Ehrendiplom ausgezeichnet. Eine Dokumentation ihrer Gemeinschaftsarbeit ist von jetzt an in der Ausstellung zur Wahl der "100 besten Plakate 1998" in der Berliner Stadtbibliothek in Mitte zu sehen. Auch ist geplant, die "Abwaschbare Namenssäule" in weiteren Städten aufzustellen, unter anderem in der Kulturhauptstadt Weimar.

Wie sind sie auf die Idee gekommen? Die Mahnmaldebatte sei gerade "sehr heftig hochgekocht" erinnern sich die drei. Das Thema Holocaust habe sie alle intensiv beschäftigt. "Wir wollten aber gerade kein Denkmal für die Ewigkeit schaffen. Nicht wieder etwas in Stein meißeln oder in Bronze gießen", betont Sebastian Lemm. Ihnen sei es vielmehr darum gegangen, "etwas zu unserem Kurzzeitgedächtnis in dieser Frage zu machen".

Das langsame Verwischen und Verschwinden der Namen soll den Prozeß des Vergessens, Verdrängens der Vergangenheit veranschaulichen. Er symbolisiert das "Reinwaschen" von Schuld und Verantwortung. Das wichtigste aber war für sie die Reaktion der Passanten. Sickert erzählt von einer Anwohnerin, die sich an ihre jüdische Freundin aus Kindertagen erinnerte und mit Beteiligung aller Umstehenden den Namen Eva Neumann zu suchen begann. Sie fand ihn, unter Tränen. Ein Berlintourist aus Skandinavien gab sich als ehemaliger Häftling in Sachsenhausen zu erkennen. "Dies ist das stillste und für mich das wichtigste Denkmal zu diesem Thema", war sein Kommentar. Dieses Erlebnis sei ihnen äußerst nahegegangen, sagt Choe. "Es war das größte Kompliment, das man sich denken kann. So etwas von jemandem zu hören, der selbst auf dieser Säule hätte stehen können."

Wer von ihnen die entscheidende Idee mit der löslichen Farbe hatte? Alle lachen: "Das wird nicht verraten, wir sind schließlich ein Team." Inzwischen haben sie ihr Diplom bestanden, alle drei mit "sehr gut". Nina Sickert heißt nun Nina Murray und hat den Karrieresprung zur Junior Art Direktorin in einer bekannten Frankfurter Werbeagentur geschafft. Lemm arbeitet in einer Ateliergemeinschaft an der "Corporated Identity" von Softwarefirmen und als Architekturfotograf. Choe ist für die studentische Agentur "Töchter und Söhne" tätig, die an der HdK anfallende Designaufgaben übernimmt.

Die Ausstellung ist bis zum 30. Juli zu sehen in der Stadtbibliothek Berlin-Mitte, Breitestraße 32-36. Montags bis freitags 10 bis 21 Uhr, sonnabends 10 bis 18 Uhr.

ELFI KREIS

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