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Gesundheit: Unsere Zentrale kommt nicht fertig auf die Welt

Die erwachsene Funktionstüchtigkeit des Gehirns wird erst durch einen allmählichen Reifungsprozess erreichtRolf Degen Im Gegensatz zu einem Industrieprodukt, das gebrauchsfertig aus seiner Produktionsstätte entspringt, kommt das menschliche Gehirn in einem völlig unterentwickelten Zustand auf die Welt. Die erwachsene Funktionstüchtigkeit wird erst durch einen allmählichen Reifungsprozess erreicht, der sich in einer Wechselwirkung mit der Umwelt vollzieht.

Die erwachsene Funktionstüchtigkeit des Gehirns wird erst durch einen allmählichen Reifungsprozess erreichtRolf Degen

Im Gegensatz zu einem Industrieprodukt, das gebrauchsfertig aus seiner Produktionsstätte entspringt, kommt das menschliche Gehirn in einem völlig unterentwickelten Zustand auf die Welt. Die erwachsene Funktionstüchtigkeit wird erst durch einen allmählichen Reifungsprozess erreicht, der sich in einer Wechselwirkung mit der Umwelt vollzieht. Wie Untersuchungen mit den neuen Bild gebenden Verfahren zeigen, geht dieser Prozess zunächst mit einem deutlichen Anstieg und dann mit einem nachhaltigen Fall der Gehirnaktivität einher.

Die Entwicklung des Gehirnes hat weniger mit dem Bau eines Computers als mit der Arbeit eines Bildhauers gemeinsam, der die Vision einer Statue nach und nach aus einem großen, unförmigen Block Stein herausschlägt. Auch das Zentralnervensystem erreicht erst durch eine Serie von Subtraktionen seinen Endzustand. Die Grundausstattung, die aus einem erheblichen Überschuss an Nervenzellen (Neuronen) und Verknüpfungspunkten (Synapsen) besteht, wird in der Kindheit durch einen aktiven Prozess zurechtgestutzt, der in der Neurobiologie als "Sculpting" (Schnitzwerk) bezeichnet wird.

Vor der Geburt werden die Neuronen, die elektrisch geladenen Grundbausteine des Gehirns, in einem opulenten Überfluss erzeugt, der dann bis zum zweiten Lebensjahr einer gezielten Säuberungsaktion zum Opfer fällt. Die Dichte der Synapsen, die den Informationsfluss steuern, erreicht erst in der Kindheit ihren Höhepunkt. Dieses Dickicht wird dann in einem langjährigen Prozess wieder ausgedünnt. Nach dem darwinistischen Grundprinzip bleiben nur "taugliche" Synapsen und Neuronen am Leben, die eine aktive Rolle in der Tätigkeit des Gehirnes erfüllen.

Es war lange Zeit ein Rätsel, ob sich diese Veränderungen auch im Energiehaushalt des Gehirnes widerspiegeln. Die neuen Bild gebenden Verfahren, besonders die Positronen-Emissions-Tomographie (PET), liefern nun eine Antwort auf die alte Frage. Beim PET-Verfahren wird der Verbleib einer besonderen, radioaktiv markierten Variante von Traubenzucker verfolgt, der als Nerventreibstoff dient.

Solche Messungen wurden in den letzten Jahren auch bei Kindern verschiedener Altersgruppen vorgenommen, führt der Neurologe Harry T. Chugani aus Detroit aus ("The Neuroscientist", Band 5, Seite 29). Der Energieverbrauch des Gehirnes, der bei der Geburt noch 30 Prozent unter dem erwachsenen Pegel liegt, steigt danach in den ersten Lebensmonaten rapide an. Im zweiten Lebensjahr holen die Kinder die Marge der Erwachsenen ein. Vom dritten bis zum zehnten Lebensjahr ist die Hirnaktivität dann sogar doppelt so hoch wie im Erwachsenenalter. Danach sinkt die Tätigkeit wieder langsam ab, um zwischen 16 und 18 Jahren den finalen Stand zu erreichen.

Auch die Gehirne der untersuchten Tiere, darunter Nager, Hunde und Affen, weisen in den Entwicklungsjahren den höchsten Energieverbrauch auf. Nach der Geburt ist die größte Aktivität in den "subkortikalen" Regionen unterhalb der Großhirnrinde (Kortex) zu verzeichnen. In dieser Phase wird das Verhalten des Babys noch durch einfache Reflexe beherrscht, die einen subkortikalen Ursprung haben. In den folgenden Monaten erwachen nach und nach die Areale der Großhirnrinde, deren Leistung gerade benötigt wird.

Im zweiten und dritten Monat, wenn das Kind seine Umwelt mit den Augen erforscht, setzt die Tätigkeit im visuellen Kortex ein. Zwischen 6 und 8 Monaten, wenn das Kleinkind die ersten komplexen Interaktionen mit den Mitmenschen unternimmt, leuchten die vorderen Regionen des frontalen Kortex in der PET-Darstellung auf. Dort sind die höchsten geistigen Leistungen wie das vorausschauende Denken angesiedelt.

Die Messergebnisse erlauben den Schluss, dass das Maximum der Hirnaktivität genau mit der Phase zusammenfällt, in der die größte Zahl überschüssiger Synapsen vorhanden ist, rekapituliert Chugani. Das menschliche Hirn stellt in den ersten Lebensjahren ein Mehrfaches der Zahl der benötigten Verknüpfungen her. Ungefähr ab dem zehnten Lebensjahr, just wenn der Niedergang der Nerventätigkeit einsetzt, baut ein selektiver Prozess den überflüssigen Ballast ab. Der zeitliche Verlauf kann je nach Standort variieren. Im vorderen Stirnlappen, wo auch der Überschuss zuletzt gebildet wird, ist die Eliminierung erst mit 16 Jahren abgeschlossen.

Dass die maximale Gehirnaktivität mit der höchsten Synapsendichte zusammenfällt, ist nach Darstellung des Forschers kein Zufall. Das Gehirn wendet den größten Teil seiner Energien auf, um in den Dendritenbäumchen, den empfangenden Organen der Synapsen, die Betriebsspannung (Membranpotential) aufrechtzuerhalten. Man nimmt an, dass vom Überschuss nur diejenigen Synapsen erhalten bleiben, die tatsächlich beansprucht werden und eine elektrische Aktivierung erfahren. Elektrisch "tote" Synapsen sterben dagegen nach einer Weile ab.

Nach den neuesten Daten kommt es aber weniger auf die Aktivierung an sich, als auf deren geordnete Struktur an. Die meisten Neuronen, die nicht von außen gereizt werden, sind nicht einfach still, sondern geben statische Entladungen ab, die dem Rauschen aus einem schlecht eingestellten Radio gleichen.

Statische Entladungen fördern den Abbau von Synapsen stärker als "Funkstille". Das stellte sich heraus, als man bei neugeborenen Nagetieren ein Auge verband. In dem andern Auge wurde die elektrische Aktivität mit einem Blocker stillgelegt. Das Zubinden der Augen förderte die Eliminierung von Synapsen viel stärker als die Unterdrückung der elektrischen Lebenszeichen. Vielleicht besteht die Chance, Synapsen therapeutisch "einzufrieren", indem man die Entladungen stoppt.

Die Phase mit den überschüssigen Verknüpfungen ist zugleich die Phase, in der das Gehirn noch seine größte Plastizität besitzt, schließt Chugani. Das Üben an einem Streichinstrument hat zur Folge, daß die beanspruchten Finger eine größere Repräsentationsfläche im sensorischen Kortex erhalten. Aber nur, wenn das Training vor dem Jugendalter beginnt.

Bei Menschen, die von Geburt an blind sind, wird der visuelle Kortex durch Tastempfindungen, zum Beispiel beim Lesen von Blindenschrift (Braille) aktiviert. Erfolgt die Erblindung nach der Kindheit, bleibt diese Aktivierung aus. © 1999

Rolf Degen

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