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Gesundheit: Von der Muschel den Betonbau lernen

Von Catarina Pietschmann Unermüdlich spült die Flut sie an den Strand – Muschelschalen, kleine Kunstwerke aus Kalk. Schon seit 350 Millionen Jahren nutzen Lebewesen Mineralien, um Schalen und Skelette aufzubauen.

Von Catarina Pietschmann

Unermüdlich spült die Flut sie an den Strand – Muschelschalen, kleine Kunstwerke aus Kalk. Schon seit 350 Millionen Jahren nutzen Lebewesen Mineralien, um Schalen und Skelette aufzubauen. Biomineralisation: vor allem Meeresbewohner beherrschen sie perfekt. Einzeller wie Diatomeen, mikroskopisch kleine Kieselalgen, nehmen Kieselsäure für ihre filigranen Glashäuser. Muscheln und Korallen bevorzugen profanen Kalk (Calciumcarbonat). Unsere Knochen und Zähne verdanken Calciumphosphat ihre Festigkeit.

Organismen verarbeiten mehr als 60 verschiedene Mineralien, die sich auch in der unbelebten Natur finden. Calciumcarbonat ist als Calcit oder Aragonit ein häufiger Bestandteil der oberen Erdkruste. Hoher Druck und extreme Temperaturen ließen hier funkelnde Kristalle wachsen. Doch bei aller Schönheit erfüllen anorganische Mineralien keine Funktion, sind nur ein Abfallprodukt geologischer Prozesse. Auch in der Formenvielfalt können sie mit Biomineralien nicht mithalten. Bestimmte Kristallstrukturen kehren immer wieder. Würfel, Rhomben, Prismen. Eckig, wenig organisch und so ganz anders als Muschelschalen, Seeigel oder ein Haifischzahn.

Natur simulieren im Wasserglas

Biominerale sind die perfekte Symbiose aus Design und Funktion. Mit einem Minimum an Material und Energie fabrizieren Organismen maximale Funktionalität. Das fasziniert Naturwissenschaftler weltweit. Sie erforschen die Mechanismen, um nach dem Vorbild der Natur – biomimetisch – Hightech-Materialien zu entwerfen.

Aber wie machen Muscheln das bloß? Im Laufe der Evolution entwickelten Lebewesen die Fähigkeit Kristallisationsprozesse optimal zu kontrollieren. Organische Substanzen, große Biopolymere wie Proteine und Polysaccharide, helfen ihnen dabei. Damit bilden sie Schablonen. Überstrukturen, die sich nach und nach mit kristallinen oder amorphen (sich unregelmäßig absetzenden) Mineralien auffüllen.

Markus Antonietti, Direktor am Max-Planck-Institut (MPI) für Kolloid- und Grenzflächenforschung in Golm bei Potsdam, gehört zu den Grundlagenforschern. Buchstäblich im Wasserglas vollzieht er diese natürlichen Prozesse nach. Als Modell nehmen die Chemiker Barit (Bariumsulfat), da es, anders als Kalk, nur eine Kristallform bildet. Geben sie nur Bariumchlorid und Natriumsulfat ins Wasser, bilden sich bei ausreichender Konzentration die für anorganische Minerale typischen kantigen Kristalle. Werden jedoch wenige Prozent eines Polymers beigemischt, entstehen wie durch Zauberhand kleinste Hanteln, Federn, Igel oder blumenartige Strukturen – je nach dem, welcher Zusatz verwendet wurde.

„Gerichtete Selbstorganisation“ nennen Wissenschaftler dieses Prinzip, dessen Kern in der Struktur des Minerals liegt. Optimal ist es, wenn die kleinste Kristalleinheit – die Elementarzelle – sehr unterschiedliche Flächen aufweist. Also nicht wie ein Würfel, sondern eher wie ein Schuhkarton geformt ist. Atome und Moleküle nehmen im Kristall bestimmte Plätze ein.

Im Barit etwa „schauen“ aus einer Fläche die positiv geladenen Bariumatome heraus. Und genau dort heften sich negativ geladene Polymere gern an. Über elektrostatische Wechselwirkungen blockieren sie diese Seite des Kristalls, der nun – notgedrungen – in die beiden anderen Raumrichtungen wächst. Durch Röntgenstrukturanalyse lässt sie die Elementarzelle exakt ermitteln. Und so können die MPI-Wissenschaftler schon am Computerbildschirm sehen, welches Polymer sie einsetzen müssen, um eine bestimmte Kristallfläche gezielt „zu behindern“. Die skurrilen Formen, die später im Labor wachsen, sind aber immer wieder eine Überraschung.

„Eine umweltverträgliche Chemie, bei der komplexeste Strukturen entstehen! In Wasser, ohne giftige Zusätze und bei Raumtemperatur“, begeistert sich Antonietti, dem es vor allem das Perlmutt angetan hat. Das entsteht, wenn ein dem Chitin ähnliches Polysaccharid hauchdünne Trennschichten bildet, zwischen denen sich – kontrolliert von Proteinen – Einkristalle aus kalkhaltiger Flüssigkeit abscheiden. Ziel ist aber nicht die künstliche Muschel. „Perlmutt ist 2000 Mal so fest wie normaler Kalk. Könnte man Beton so stabil machen, würde das die Architektur revolutionieren.“

Maßgeblich für die Statik eines Bauwerkes ist die Kompressionsfähigkeit des Materials – also, wie hoch man es übereinander schichten kann, ohne dass die untersten Elemente zerdrückt werden. Stahlbeton hält einem Druck von 50 Megapascal Stand (das entspricht fürs Allgemeinverständnis ausgedrückt einer halben Tonne Last pro Quadratzentimeter), Perlmuttbeton jedoch einem Gigapascal (gleich zehn Tonnen pro Quadratzentimeter)!

Technologiestudien aus dem dicht besiedelten Japan, die auf Rechnungen mit „Gigabeton“ basieren, lassen surreal anmutende Türme, in denen ganze Städte sich bis auf 4000 Meter Höhe hinaufwinden, in greifbare Nähe rücken. Auch Spannbrücken über weite Distanzen kämen ohne zusätzliche Stützen aus. Und das bei geringem Materialgewicht und minimaler Wandstärke. Allerdings will die Kristallisation sehr genau kontrolliert sein: Perlmuttbeton muss industriell in Fertigteilen produziert werden.

Knochenersatz aus dem Labor

Joachim Koetz vom Institut für Chemie der Uni Potsdam beschäftigt sich mit Hydroxyapatit, chemisch Calciumphosphat, das Knochen und Zähne so stabil macht. Er nutzt feinste Tröpfchen von Mikroemulsionen als Reaktionsraum, um nur Nanometer große Kügelchen zu kristallisieren. „Derartige Strukturen sind ideal für hochfeste Keramiken.“ Koetz gibt zwei Emulsionen mit den Kristall-bildenden Komponenten zusammen, in Gegenwart eines Polymers.

Auch hier ist das Prinzip „gerichtete Selbstorganisation“. Zwei Mikrotröpfchen neigen dazu, sich kurzzeitig zu verbinden (zu koagulieren). Dabei mischen sich die Flüssigkeiten in ihrem Inneren und Kristalle entstehen. Elektrostatische Wechselwirkungen zwischen Tröpfchenhülle und Polymer stabilisieren die Kügelchen. Die Größe der Minikristalle variiert je nach Reaktionsbedingung zwischen zwei und 100 Nanometer. Verwendet man langkettige Biopolymere, entstehen mit der gleichen Methode Kristall-Konglomerate (Cluster), die als biokompartibler Knochenersatz eingesetzt werden könnten. Muschelkalk und Knochen – uralte Materialien, und doch hochmodern.

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