zum Hauptinhalt

Gesundheit: Von westlichen Werten

Heinrich August Winkler über das Thema seiner letzten Vorlesung an der Humboldt-Universität

Die Europäische Union sei eine Wertegemeinschaft, so hören wir es fast täglich von Politikern, und die Werte, auf die sich die EU gründe, seien die europäischen. Aber stimmt das eigentlich? Das geografische Europa, das Europa vom Atlantik bis zum Ural, war nie eine Wertegemeinschaft. Große Teile Europas haben an der Herausbildung der Werte, auf die sich die EU beruft, keinen Anteil gehabt. Umgekehrt sind die Werte, zu denen sich die Vereinigten Staaten von Amerika bekennen, keine anderen als die, die wir so gern die „europäischen“ nennen.

Die ersten Menschenrechtserklärungen stammen aus den nordamerikanischen Kolonien der britischen Krone. Der Vorreiter war Virginia mit seiner „Declaration of Rights“ vom 12. Juni 1776. Wenig später wanderte die Idee der unveräußerlichen Menschenrechte über den Atlantik. Am 26. August 1789, sechs Wochen nach dem Sturm auf die Bastille, verabschiedete die französische Nationalversammlung die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte – von den amerikanischen Vorbildern angeregt und in manchem über sie hinausgehend. Die Menschenrechte waren also das Ergebnis eines transatlantischen Zusammenwirkens. Und nicht nur die Menschenrechte, sondern ebenso auch die Ideen von der „rule of law“, der Herrschaft des Rechts, der repräsentativen Demokratie und der „checks and balances“, den wechselseitigen Kontrollen und Gegengewichten, die eine zu starke Machtkonzentration in einer Hand verhindern sollen. Wir tun also gut daran, nicht von europäischen, sondern von westlichen Werten zu sprechen, wenn es um die Grundlagen unserer Demokratie und den Zusammenhalt der Europäischen Union geht.

Zwischen Europäern und Amerikanern gibt es immer wieder Streit um die politischen Folgerungen, die sich aus den westlichen Werten ergeben. Der Streit ist ebenso notwendig wie die Einsicht, dass die Werte, auf die sich beide Seiten beziehen, dieselben sind. Aus scharfen transatlantischen Auseinandersetzungen lässt sich also nicht folgern, dass es die westliche Wertegemeinschaft nicht oder nicht mehr gibt. Die Kontroversen machen vielmehr deutlich, dass die westliche Wertegemeinschaft erstens pluralistisch und zweitens ein unvollendetes Projekt ist.

In meiner zweibändigen deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts – „Der lange Weg nach Westen“ (C. H. Beck, 2000) – geht es vor allem um die Frage, warum Deutschland sich so lange gegen die volle Aneignung der westlichen Werte gewehrt und diesen Widerstand erst nach den Erfahrungen des „Dritten Reiches“, des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust aufgegeben hat. Deutschland ist ein Land, das historisch immer zum Westen gehört und diesen auch mitgeprägt hat. Erst vor diesem Hintergrund gewinnt das Wort vom „deutschen Sonderweg“, der Abweichung Deutschlands vom Westen, seinen tieferen, selbstkritischen Sinn.

Seit einiger Zeit arbeite ich an einem Buch, das den Titel „Der lange Weg des Westens“ tragen könnte. Warum hat nur ein Teil Europas, der alte Okzident oder das Europa der Westkirche, jene Gewaltenteilungen hervorgebracht, auf denen unsere moderne Demokratie beruht? Warum hat die Demokratie so lange gebraucht, um sich innerhalb jenes alten Westens durchzusetzen, der immer auch das Baltikum, Polen, das heutige Tschechien, die Slowakei, Ungarn, Slowenien und Kroatien umfasste, also über den „Westen“ des Kalten Krieges weit hinausreichte? Das sind zwei der Fragen, um die es in dem Buch geht. Die Antworten will ich nicht vorwegnehmen, wohl aber eine These: Eine Mitgliedschaft in der EU verlangt vor allem anderen ein glaubwürdiges Bekenntnis zu den westlichen Werten und eine vorbehaltlose Öffnung gegenüber der politischen Kultur des Westens.

-

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false