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Gesundheit: Was sowjetischen Soldaten vor 50 Jahren zum Verhängnis werden konnte

Am Morgen des 3. April 1949 war es still am Ehrenmal für die sowjetischen Soldaten im Tiergarten.

Am Morgen des 3. April 1949 war es still am Ehrenmal für die sowjetischen Soldaten im Tiergarten. Vom Brandenburger Tor näherten sich einige Männer in Uniform und Zivil. Es waren Mitarbeiter der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland, die kurz vor ihrer Abreise in die Heimat einige Erinnerungsfotos knipsen wollten. Zufällig kam ein Offizier der amerikanischen Militäradministration hinzu und versuchte, den Russen in gebrochenem Deutsch zu erklären, dass seine Vorfahren aus Kiew stammen. Da die Russen um die Folgen solcher Gespräche wussten, wandten sie sich eilig ab. Nur einer, Andrej Orsheschkowski, wechselte mit dem Amerikaner einige belanglose Sätze.

Am 4. April wurde Andrej verhaftet, das Foto, auf dem er neben dem Amerikaner am Ehrenmal zu sehen ist, als "Beweismittel", in der Untersuchungsakte abgelegt. Was dann folgte, war Teil einer Operation der sowjetischen Staatssicherheitsorgane, die schon seit geraumer Zeit die wissenschaftliche-technische Abteilung des Ministeriums für Nachrichtenwesen der UdSSR in Deutschland observierten. Zu den Aufgaben dieser abgeschirmten und privilegierten Abteilung, in der Orsheschkowski arbeitete, gehörte die Sammlung und Auswertung von für das Ministerium interessanten Informationen. Als der Beschluss gefasst worden war, die Abteilung, die mit Informanten aus allen Sektoren Berlins arbeitete, aufzulösen und ihre Mitarbeiter nach Moskau zu beordern, sah die Staatssicherheit, der deren "Unantastbarkeit" immer ein Dorn im Auge war, ihre Stunde gekommen.

Jetzt konnte die Sonderabteilung der SMAD ihre Wachsamkeit unter Beweis stellen. Weil Orsheschkowski Hinweise von SED-Funktionären über die NS-Vergangenheit von Siemens-Ingenieuren ignoriert hatte, sah sich der Sekretär der Parteizelle der KPdSU (B) im Ministerium veranlasst, die Staatssicherheit über die "ungesunde ideologische Atmosphäre" zu informieren. Der vorläufig festgenommene Abteilungsleiter Viktor Bowkun gab schon während der ersten Vernehmung die erwarteten Aussagen gegen Orsheschkowski ab. Er und zwei weitere sowjetische Offiziere saßen wegen "intimen Beziehungen zu deutschen Frauen". Der Aufenthalt im Westen "zersetzte die Moral der Truppe" und die SMAD versuchte mit allen Mitteln, ihre Mitarbeiter vom Alltag abzuschotten. Laut Befehl waren private Beziehungen und Besuche bei Deutschen verboten. Auf Parteiversammlungen hieß es immer wieder, dass "intime Beziehungen zu Deutschen" gleichbedeutend mit antisowjetischer Tätigkeit waren.

Doch die Versuchung war nicht nur in dieser Beziehung groß. Die Direktive der SMAD Nr. 00146 vom 26. März 1947 untersagte den Mitarbeitern und ihren Familienangehörigen den Besuch der Westsektoren. Verstöße gegen dieses Verbot waren jedoch die Regel. Der Westen lockte mit Theatern, Kinos, Warenhäusern und Sportveranstaltungen. Der Untersuchungshäftling Orsheschkowski gab zu Protokoll, dass die Parteifunktionäre mit ihrem Politunterricht nur die Arbeit der Abteilung behindern und die Hirne der Mitarbeiter verkleistern, anstatt zur Aufklärung beizutragen. Der Parteisekretär führte weitere Beispiele für die "Zersetzung" des Untersuchungsgefangenen an. So hatte Orsheschkowski behauptet, und das auch in der U-Haft wiederholt, dass die Sowjetunion noch 500 Jahre bis zum Kommunismus braucht. Darauf konnten die Untersuchungsführer keine "richtige Anklage" aufbauen. Sie forschten nach und fanden einen Vorwand, der sich zum Spionageszenario ausbauen ließ: das Gespräch mit dem amerikanischen Offizier am Ehrenmal.

Während der Haussuchungen bei Bowkun und Orsheschkowski wurden Unterlagen gefunden, die den Vorwurf der "unachtsamen Aufbewahrung von Staatsgeheimnissen" erhärteten. Es spielte keine Rolle, dass es sich bei diesen Papieren um deutsche Dokumentationen handelte. In Ermangelung von "Beweismaterial" wurden sogar Aufnahmen von deutschen Postkartenautomaten, die im Ministerium für den Betrieb mit sowjetischen Münzen umgerüstet waren und eine Briefmarkensammlung, die im Protokoll als "Porträts der Zaren von Katharina der II. bis Nikolai II" vermerkt ist, beschlagnahmt. Die "Entlarvung" war perfekt, als der Beweis gebracht war, dass Bowkun und Orsheschkowski regelmäßig den "Tagesspiegel", den "Telegraph" oder den "Kurier" lasen und Beiträge über Wirtschaftsfragen sammelten. Zu den Artikeln, die im Laufe der Untersuchung als "antisowjetisch" qualifiziert wurden, gehört ein Beitrag aus dem "Tagesspiegel" vom 23. Mai 1947 über die Ernte in der UdSSR.

Orsheschkowskis Ausrede, er habe mit den Zeitungen nur den Koffer gegen Staub abdecken wollen, wiesen die Untersuchungsführer unter Hinweis auf den vom Militärkommandanten von Berlin, General Kotikow, erlassenen Befehl Nr. 97 zurück, der die Verbreitung von West-Berliner Zeitungen seit dem 1. September 1948 im Ostteil der Stadt verbot. Sehr bald stellte sich heraus, wie diese verbotenen Zeitungen in die Hände der Offiziere gelangten. Die deutsche Bibliothekarin erhielt Geld, um die Zeitungen zu kaufen und schmuggelte diese dann - eingewickelt in die "Tägliche Rundschau" - in die Behörde ein.

Bowkun versuchte zu retten, was zu retten war, als er erfuhr, dass seine Korrespondenz mit Hella Kronenberg, sie gab Deutschunterricht, gefunden worden war. Hellas Vater, Paul Kronenberg, gehörte zu den Wissenschaftlern, die 1946 in die Sowjetunion gebracht wurden, um an Sonderforschungsprojekten zu arbeiten. Paul Kronenberg wurde einen Monat später verhaftet und wegen Spionage zu zehn Jahren Besserungsarbeitslager verurteilt. Seine Spur verliert sich im Gulag von Workuta.

Am 29. Oktober erhielten die verhafteten sowjetischen Offiziere die Anklageschrift. Ihre Biographie war gründlich überarbeitet worden, denn Orsheschkowskis Vater hatte es unter dem Zaren bis zum Oberst gebracht und Bowkuns Vater als Postangestellter gearbeitet. Im Klartext: beide waren klassenfremde Elemente. Außerdem konnten ihnen Verbindungen zu einem jugoslawischen Mitarbeiter der SMAD nachgewiesen werden. Inzwischen galt Tito, Stalins einstiger Freund und Kampfgefährte, als "Faschist und Marschall der Verräter".

Die Zeitungsausschnitte, sie füllten eine dicke Akte, wogen im wahrsten Sinne des Worts schwerer als der Vorwurf, dass beide Angeklagten "lebhaftes Interesse an westlicher Kunst und Kultur hatten und diese gegenüber Sowjetbürgern priesen". Bowkun gestand daraufhin alles, Orsheschkowski nur den Kauf und die Lektüre der "verbotenen" Zeitungen. Aber auch das reichte, um nach dem berüchtigten Paragraphen 58 wegen "antisowjetischer Agitation" verurteilt zu werden. Bowkun bekam zehn Jahre Lager, Orsheschkowskie fünf. Die Militärstaatsanwaltschaft war mit dem Entzug der Bürgerrechte und der unehrenhaften Entlassung nicht zufrieden und beanstandete das Urteil als "zu milde". Bowkun blieb im Lager, Orsheschkowski bekam nach der Überstellung nach Moskau drei Jahre dazu. Er hatte mehr Glück als sein Chef und kam in ein Speziallabor für die Produktion von Kabeln, das die Geheimpolizei betrieb. Hier arbeitete er bis zu seiner Entlassung im Jahre 1957.Alexander Watlin ist Historikiker und lebt in Moskau. Für die Veröffentlichung übersetzt und bearbeitet von Wladislaw Hedeler.

Alexander Watlin

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