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Gesundheit: Weiße Kittel auf der Flucht

Überstunden und Extradienste: Warum junge Mediziner Deutschland verlassen

Über 70 Stunden die Woche arbeiten? Im nächtlichen Bereitschaftsdienst operieren? Ein Leben als Märtyrer in Weiß? Für die Berliner Medizinstudenten Lasse Dührsen und Michael Lipp steht fest: Nach ihrem Medizinstudium wollen sie ins Ausland gehen – Dührsen nach Norwegen, Lipp nach Finnland. Unter den angehenden Weißkitteln scheinen sie damit nicht allein zu sein. „Wegen der schlechten Arbeitsbedingungen sehen sich viele Medizinstudierende gezwungen, Jobs in medizinnahen Berufsfeldern anzunehmen oder ins Ausland zu wechseln“, sagt Maike Wilk von der Bundesvertretung der Medizinstudenten in Deutschland (BVMD). Das sei das Ergebnis einer Online-Umfrage unter 3600 Medizinstudenten.

Michael Lipp fällt der Schritt ins Ausland nicht schwer. Mit seinen Eltern zog er 1985 nach Skandinavien und kehrte erst zum Studieren nach Deutschland zurück. Nachdem er sich während seiner Famulatur in einem finnischen Krankenhaus umschaute, war er vom dortigen Gesundheitssystem begeistert. „Die Ärzte dort wirken alle deutlich jünger als in Deutschland, haben alle eine Familie“, sagt Lipp. „Sie können sogar pünktlich Schluss machen.“ Am meisten reizt ihn, dass man sich dort auf die Patienten konzentrieren könne. Den ganzen Papierkram erledigten dort Sekretärinnen, von denen es auf jeder Station eine gebe. „In Deutschland muss der Arzt doch allem selbst hinterhertelefonieren.“ Dadurch entstehen viele Überstunden für Ärzte. Stundenlang sitzen sie am Schreibtisch und füllen Formulare aus.

Das kommt schlecht bei den Nachwuchsmedizinern an. 90 Prozent der Medizinstudenten sehen den bürokratischen Aufwand als größtes Problem in deutschen Krankenhäusern. Vor allem, weil solche Überstunden meist unbezahlt sind. Allein an der Charité führen die etwa 2300 Ärzte und Wissenschaftler 85 000 unbezahlte Überstunden pro Monat an, ermittelte die Ärzteinitiative der Charité, die sich für die Rechte von Ärzten einsetzt. Schreckt das vor dem Arztberuf in Deutschland ab?

Ob in den letzten Jahren tatsächlich mehr Ärzte im Ausland praktizieren, ist unklar. Da in vielen Ländern private Anbieter die jungen Akademiker vermitteln, hat die Bundesagentur für Arbeit keine genauen Zahlen. Sie schätzt aber, dass das Interesse an einer Auswanderung gestiegen ist, da mehr Anfragen eingehen. Nach Schätzungen der Bundesärztekammer und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung praktizierten 2004 etwa 2600 deutsche Ärzte in England und den USA, 200 in Schweden, in Norwegen 650.

Dass ihre Zahl in den kommenden Jahren deutlich anschwillt, kann Lasse Dührsen sich nicht vorstellen: „Ich hab nicht von vielen gehört, die wirklich motiviert sind zu gehen.“ Wer sein persönliches Umfeld in Deutschland habe, schrecke wohl eher vor diesem großen Schritt zurück. Wäre Dührsens Freundin keine Norwegerin, würde er vermutlich trotz der Missstände nicht weggehen.

Viele Studierende, die Deutschland nicht verlassen wollen, prüfen heute deshalb ernsthafter als früher Alternativen zum Job im Krankenhaus. Nach Angaben der Bundesärztekammer liegt die Schwundrate von Medizinern bei etwa 25 Prozent. Von 9000 Medizinstudenten, die 2003 ihren Abschluss machten, traten nur 6800 ihre Stelle als „Arzt im Praktikum“ an. „Der Ärztemangel ist nicht mehr zu übersehen“, sagt der Präsident der Bundesärztekammer, Jörg Dietrich Hoppe. Berufe in Pharmaindustrie, als medizinischer Produktmanager oder auch im medizinischen Journalismus wirkten auf junge Mediziner ungleich attraktiver als eine Anstellung im Krankenhaus. Zwar gehören auch dort lange Arbeitszeiten zur Normalität, aber es fallen weniger Überstunden und Wochenendschichten an.

Ein Arzt kann Familie und Berufsleben kaum noch miteinander verbinden, glauben nach Umfrage der BVMD 86 Prozent der Medizinstudenten. Auch Hannes Tiedt, der im 10. Semester an der Charité studiert und „auf keinen Fall ins Ausland“ will, denkt über berufliche Alternativen nach. Der 26-Jährige sieht einen Mentalitätswechsel bei sich und seinen Kommilitonen: „Wir wollen nicht nur für den Job leben, sondern sehen ihn auch als Broterwerb.“ Trotzdem: Tiedt täte es leid, sollte er tatsächlich später nicht als Arzt arbeiten können, schließlich studiere er nicht ohne Grund Medizin. Er hofft deshalb, dass sich an den Bedingungen rechtzeitig genug für ihn etwas ändert.

Zu den Bedingungen zählt auch das Gehalt. 1800 Euro netto als lediger, 2500 als verheirateter Arzt verdient man an der Charité. Das ist weniger als in einem Berliner Stadtkrankenhaus. Als Assistenzarzt seien es 2,92 Euro pro Stunde, stand auf einem Plakat, das Charité-Ärzte trugen, als sie im vergangenen November streikten. Doch über die Höhe des Einkommens kursieren verschiedene Zahlen. Deutsche Ärzte gehören zu den schlechtbezahltesten in Europa, verkündete unlängst das britische Gesundheitsministerium. Eine Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, OECD, behauptet das Gegenteil. Die Gehälter hiesiger Mediziner seien durchaus mit denen ihrer ausländischen Kollegen konkurrenzfähig.

Die jungen Mediziner wissen nicht, womit sie rechnen können. Klar scheint nur, dass ihre künftigen Löhne unter denen von Naturwissenschaftlern und Managern liegen. Viele Mediziner fühlen sich nicht ausreichend honoriert. Sechs Jahre dauert das Medizinstudium, fünf Jahre die Facharztausbildung. Dazu kommt die hohe Verantwortung im Beruf, wenn man in Sekundenbruchteilen Entscheidungen treffen muss, die über Leben oder Tod des Patienten entscheiden können.

Das Bild vom Arzt, der mit dem Porsche zum Golfen fährt, hatte Michael Lipp ohnehin nie. „Schauen sie sich doch mal um“, sagt er auf dem Parkplatz vor der Charité. Porsche oder teure Geländewagen sieht man nicht. Nur ein Arzt komme regelmäßig mit dem Ferrari vorgefahren. Der verdiene wohl sehr gut. Das Gehaltsgefüge in Finnland gefällt Lipp persönlich besser als das deutsche. „Dort bekommt man zunächst mehr Geld als hier, mit dem Alter steigt das Gehalt aber langsamer.“ Zudem sei das Einkommen nicht so stark von Bereitschaftsdiensten abhängig.

Wenn es mit dem Job in Skandinavien nicht klappt, will Lipp sich deshalb nach anderen Möglichkeiten umsehen, in der Schweiz oder in England. Dorthin Kontakt zu bekommen, ist nicht schwierig. Auf den Lesezeichen in der Charité-Bibliothek wirbt die britische Medizinbranche mit einer Telefonnummer: Wer Interesse an einem gut bezahlten Job habe, solle einfach anrufen.

Johannes Edelhoff

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