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Gesundheit: Weizen, der wandert

Pflanzen bewegen sich – wenn auch in Zeitlupe, wie Potsdamer Wissenschaftler herausgefunden haben

Die Biologenregel „Pflanzen bleiben an Ort und Stelle, Tiere bewegen sich“ ist für Ingo Burgert vom Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung in Potsdam-Golm längst überholt. Weizen bohrt sich recht aktiv in den Boden, hat der Forscher gerade eben mit seinem Golmer Kollegen Peter Fratzl sowie Rivka Elbaum und Liron Zaltzmann vom israelischen Tel Hai Academic College gezeigt. Über ihre Arbeit berichten die Forscher im Fachblatt „Science“ (Band 316, Seite 884).

Natürlich hat so ein Weizenkorn keine Muskeln. Im Nahen Osten aber gibt es urtümliche Weizenformen, bei denen an jedem Weizenkorn je eine kräftige Granne an jeder Seite sitzt. Die Grannen sind lange, borstenähnliche Fortsätze, mit deren Hilfe sich der Weizenkeim in den Boden bohrt. Sie bestehen aus Zellulose-Fibrillen. Das sind lange, fadenförmige Stärkemoleküle, die auch Holz Stabilität verleihen.

Lägen diese Fibrillen parallel nebeneinander, wäre eine Urweizengranne auch relativ steif. Wird die Luft feuchter, nimmt dann zwar die zwischen den Zellulosefäden liegende Hemizellulose Wasser auf und quillt. Die Granne würde dabei aber nur dicker und nicht länger.

In einer Urweizengranne aber liegen die Zellulose-Fibrillen nur auf einer Seite des Fadens parallel nebeneinander, während sie auf der anderen Seite erheblich weniger geordnet sind. Wird diese andere Seite nun feuchter und quillt die darin ebenfalls vorhandene Hemizellulose auf, vergrößert sie sich nach allen Seiten und wird so nicht nur dicker, sondern auch länger.

Im Prinzip verhält sich die Granne also wie ein Bimetall, bei dem zwei Streifen aus verschiedenen Metallen flach aneinanderkleben. Dehnt sich eines dieser Metalle bei höheren Temperaturen stärker als das andere aus, wird es dabei auch länger. Da beide Metalle aber fest aneinanderkleben, kann dieser Metallstreifen nur länger werden, wenn beide Streifen sich auf den anderen Streifen zu krümmen. Nur dann kann der innere Streifen kürzer als der äußere sein, ohne das Bimetall zu zerreißen.

Nicht viel anders als ein solches Bimetall aber verhält sich die Urweizengranne, wenn sie bei Feuchtigkeit aufquillt und dabei die ungeordnete Seite länger wird, während sich die Länge der Seite mit den parallelen Zellulose-Fibrillen nicht verändert: Sie krümmt sich. Diesen Grundsatz gibt es in der Natur auch bei anderen Pflanzen, „Kiefernzapfen öffnen sich nach einem sehr ähnlichen Prinzip“, erklärt Ingo Burgert.

Wie bei einem Menschen, der mit den Armen in der Luft rudert, genügt auch den beiden Grannen und ihrem Weizenkorn die Bewegung allein nicht, um voranzukommen. Gleichzeitig benötigt eine Vorwärtsbewegung nämlich auch einen festen Halt. Wer einmal versucht hat, auf Eis zu laufen, lernt schnell, wie wichtig dieser feste Halt für die Vorwärtsbewegung ist.

Den Grannen verschaffen winzige Haken aus Siliziumdioxid diesen Halt. Das holen Pflanzen ohnehin mit ihren Wurzeln aus dem Boden, Sand besteht häufig aus dieser Chemikalie. Die winzigen Siliziumdioxidhaken aber sind ähnlich fest wie ein Sandkorn.

Genau wie in Deutschland sind auch in den relativ trockenen Regionen des Nahen Ostens, in denen der Urweizen noch heute wächst, die Nächte meist erheblich feuchter als die Tage. Diese Feuchtigkeit lässt die Hemizellulose quellen, und die Grannen auf beiden Seiten des Weizenkorns krümmen sich. Dabei verankern sich die Haken so fest im Boden, dass sie nicht mehr zurückkönnen. Die trockene Luft des Tages lässt die Hemizellulose wieder schrumpfen, und die Grannen werden wieder gerade. Da die Härchen die Grannen aber am Zurückgleiten hindern, bohren sie sich mitsamt dem Weizenkorn millimeterweise in die Tiefe. Und da sich dieser Vorgang bei jedem Tag-und-Nacht-Zyklus wiederholt, erreicht der Weizen so ohne fremde Hilfe die Bodentiefe, in der er am besten keimt.

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