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Gesundheit: Wie Männer und Frauen auf Krankheiten reagieren - Diskussionsrunde zum "kleinen Unterschied" beim Tagesspiegel

"Der Unterschied zwischen Frau und Mann beträgt genau 27 Zentimeter." Mit dieser einleitenden Bemerkung meinte Justin Westhoff die Länge der Chromosomenfäden.

"Der Unterschied zwischen Frau und Mann beträgt genau 27 Zentimeter." Mit dieser einleitenden Bemerkung meinte Justin Westhoff die Länge der Chromosomenfäden. Der Moderator des 12. Treffpunkt Tagesspiegel Medizin & Fitness zum Thema "Der kleine Unterschied. Männerkrankheiten - Frauenkrankheiten" im ICC machte jedoch gleich eingangs klar, dass die Lage sich komplizierter darstellt: Will man den Folgen des kleinen Unterschieds für die Gesundheit auf die Schliche kommen, so muss neben dem biologischen Geschlecht das soziale Berücksichtigung finden.

Auf den Sinn dieser Abgrenzung wies Petra Kolip vom Institut für Soziale und Präventive Medizin der Universität Zürich hin: Frauen haben in den Industrienationen eine etwa sieben Jahre längere Lebenserwartung. Gleichzeitig schätzen sie jedoch ihre Befindlichkeit schlechter ein und gehen häufiger zum Arzt. Für das längere Leben können biologische Faktoren wie die Ausstattung mit zwei X-Chromosomen und die gefäßschützende Wirkung des weiblichen Hormons Östrogen, auf der anderen Seite aber auch Verhaltensunterschiede ins Feld geführt werden. Denn Männer sterben häufiger an den Folgen von Unfällen, hohem Alkohol- und Zigarettenkonsum.

"Angleichung im Negativen"

Was den letzten Punkt betrifft, so ist allerdings inzwischen nach Auskunft des Internisten Klaus-Peter Hellriegel bei jungen Leuten eine "Angleichung im Negativen" zu verzeichnen. "Lungenkrebs könnte bei Frauen bald den Brustkrebs überflügeln", so der Vorsitzende der Berliner Krebsgesellschaft. Grund genug eigentlich, von alten Stereotypen Abstand zu nehmen. Doch immer noch machen Männer und Frauen unterschiedliche Erfahrungen im Gesundheitswesen, so betonte Frau Kolip. Sie nannte als Beispiel den Herzinfarkt, der Studien zufolge bei weiblichen Betroffenen oft weniger gründlich behandelt wird. Dafür werden die Krebsfrüherkennungsuntersuchungen von Frauen mehr in Anspruch genommen.

Dieter Kleiber vom Institut für Prävention und psychosoziale Gesundheitsforschung der FU machte deutlich, dass das Verhalten der Patientinnen oft eine Suche nach psychosomatischen Zusammenhängen nahelege, denn "Frauen haben ein höheres Maß an Selbstöffnungsbereitschaft". Sie konstruierten ihre Identität eher über Beziehungen zu ihrer sozialen Umwelt, während Männer dafür die Unterschiede zu anderen hervorhöben, erklärte der Gesundheitsforscher. Auch Klaus Vetter, Geburtsmediziner am Krankenhaus Neukölln und Präsident des derzeit im ICC stattfindenden Perinatologenkongresses, sieht die Stärke von Frauen in der Bildung von Netzwerken zur gegenseitigen Hilfe.

Warum geht nur jeder zehnte Mann, aber gut ein Drittel der anspruchsberechtigten Frauen dafür zum Arzt? "Männer sind bei weitem nicht das starke Geschlecht", gab der Urologe Manfred Richter-Reichhelm zu bedenken. Der Vorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin machte auf der Suche nach den Gründen bei seinen Geschlechtsgenossen Vogel-Strauß-Politik, Schamgefühl, vor allem aber Angst vor den therapeutischen Konsequenzen einer erkannten Krankheit aus.

Dass es manchmal die Frauen sind, die ihre Männer in die Praxis des "Männerarztes" bringen, berichtete Jürgen Simon, Vorsitzender des Berufsverbandes der Urologen in Berlin. "Aufgrund ihrer biografischen Erfahrungen sind Frauen realistischer, was ihre eigene Verletzlichkeit betrifft", betonte Hans Peter Rosemeier vom Institut für Medizinische Psychologie der FU. Die bessere Körperwahrnehmung beginne schon mit der ersten Monatsblutung. Männer dagegen haben "größere Unverletzlichkeitsillusionen". "Wir müssen die geschlechtsspezifischen Unterschiede im ärztlichen Verhalten einkalkulieren", forderte Kleiber. Zwischenbilanz also: Männer neigen eher dazu, ihre gesundheitlichen Probleme zu verdrängen, Frauen gelten unter Gesundheitsforschern eher als besonders sensibel und sogar als "Wiederkäuer" ihrer Leiden. Depressionen und psychosomatische Erkrankungen können der Preis dafür sein.

Liegt das nicht auch daran, dass der weibliche Körper, vom prämenstruellen Syndrom über die Schwangerschaft bis zum Klimakterium, heute ganz erheblich "medikalisiert" wird? Ein zweischneidiges Schwert, doch der Gynäkologe Gerhard Schaller hob die Errungenschaften an Freiheit und Lebensqualität hervor, die die moderne Medizin den Frauen gebracht hat: "Wenn ich ein Foto meiner Großmutter betrachte, so sehe ich, dass sie mit 58 Jahren älter aussah als alle gleichaltrigen Frauen heute." Das sei nicht zuletzt den Möglichkeiten zur Geburtenkontrolle und der Hormonersatztherapie in den Wechseljahren zu verdanken.

Die Pille für den Mann

Gerade die Geburtenkontrolle könnte in Zukunft auch für den Mann ein Grund sein, öfter seinen Arzt aufzusuchen. Denn hormonelle Empfängnisverhütung muss nicht das zweifelhafte Vorrecht der Frauen bleiben. Ursula Habenicht arbeitet am Institut für Hormon- und Fortpflanzungsforschung der Universität Hamburg und in Zusammenarbeit mit der Firma Schering an der Pille für den Mann. Eine Kombination von männlichen Geschlechtshormonen und Gestagenen soll dafür in die Reifungsprozedur der Spermien im Nebenhoden eingreifen. 70 Prozent der Männer haben in einer Umfrage nach Frau Habenichts Worten bekundet, sie könnten sich vorstellen, das Präparat zu nehmen, wenn es in zehn bis 15 Jahren auf den Markt kommt. Ein Haken bei der Sache: Etwa die Hälfte der befragten Frauen hätten Mühe, das dem Partner auch zu glauben.

Bleiben die Pillen also weiter Frauensache? Um die Hormonersatztherapie jedenfalls rankte sich die Mehrheit der Fragen aus dem Publikum. Alle Experten waren sich einig, dass individuelle Lösungen für jede einzelne Frau gefunden werden müssen, setzten jedoch dabei Akzente. Hellriegel betonte, dass die Östrogengabe vor allem für Frauen wichtig sei, die früh in die Wechseljahre kommen und deshalb besonders osteoporosegefährdet sind. Da das Brustkrebsrisiko nach dem jetzigen Kenntnisstand leicht erhöht ist, sei eine Nutzen-Risiko-Analyse wichtig. Schaller betonte jedoch im Hinblick auf dieses Risiko: "Die Unkenrufe haben sich nicht bestätigt."

Wenn es um das Aufklärungsgespräch mit dem Arzt oder der Ärztin geht, dann sind nach der Erfahrung des Krebsspezialisten Hellriegel jedenfalls individuelle Unterschiede auf beiden Seiten viel entscheidender als das Geschlecht. Der "Diagnose-Eröffnungsschock", so sekundierte der Psychologe Rosemeier, sei weit prägender. Angesichts dieser großen Themen scheint der Unterschied wirklich klein zu werden. "Wir kommen nicht weiter, wenn wir Männer gegen Frauen ausspielen und umgekehrt", gab Petra Kolip zu bedenken.

Adelheid Müller-Lissner

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