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Gesundheit: Wilde Diplomaten

Hackordnungen zeigen sich von den Fischen bis hin zum Menschen. Sind sie der Motor der Intelligenz?

Wer schon einmal als Mitglied einer kleinen Delegation, etwa der eigenen Firma, an einem Geschäftstreffen mit einer anderen Gruppe teilgenommen hat, kennt es: Wir beobachten, wie unsere Chefs mit den uns Unbekannten der anderen Gruppe umgehen und lernen, die interne Rangordnung unserer Gegenüber kennen. Das erspart Zeit und Auseinandersetzungen mit den Ranghohen der Gegenseite.

Dieses Übertragen der sozialen Stellung spielt auch unter Verhaltensforschern eine prominente Rolle. Die Wissenschaftler erhoffen sich Hinweise, wie Bewusstsein bei Tieren im Verlauf der Evolution entstand. Eine Reihe von Verhaltensbeobachtungen bei verschiedenen Arten – insbesondere bei Menschenaffen – legte bereits nahe, dass solche Übertragungsleistung im Tierreich vielfach genutzt werden. Doch konnte dies bislang nicht eindeutig nachgewiesen werden.

So vertraut uns Menschen jegliches Sozialverhalten gerade im Zusammenhang mit Rangordnungen anmutet, so verblüfft waren Ethologen jetzt, als sie entdeckten, welch feines soziales Gespür sogar eine amerikanische Vogelart entwickelt hat. Nacktschnabelhäher (Gymnorhinus cyanocephalus) können offenbar allein aus der Beobachtung ihnen bekannter Artgenossen und deren Interaktion mit bis dahin unbekannten Tieren auf deren gesellschaftliche Stellung schließen. Dies berichten Forscher um Alan B. Bond und Alan C. Kamil von der University of Nebraska in Lincoln jetzt im Fachmagazin „Nature“ (Band 430, Seite 778). Möglicherweise könnten auch bei anderen sozial lebenden Tieren die kognitiven Fähigkeiten zu ähnlichen Leistungen sehr viel häufiger vorliegen.

Jede Gesellschaft hat ihre eigenen Rituale um Rangordnungen; und jedes Mitglied weiß früher oder später, spätestens nach schmerzvollen Erfahrungen, wo in der jeweiligen Sozialhierarchie es selbst steht. Solche Rangordnungen werden bei verschiedenen Tiergruppen auf ganz unterschiedliche Weise ausgehandelt. Viele Wirbeltiergesellschaften sind rangordnungsmäßig vollständig durchstrukturiert, wobei jedes Individuum seinen festen sozialen Platz einnimmt. Bei Wölfen etwa, so hat die klassische vergleichende Verhaltensforschung der Lorenz- Schule ermittelt, gibt es alpha-Tiere sowohl bei den Weibchen als auch den Männchen. Nur diese an der Spitze der Gruppen-Hierarchie stehenden Tiere verpaaren sich. Diese Rangordnungsstruktur, die anfangs durch gegenseitiges aggressives Verhalten inklusive offener Kämpfe ausgefochten wird, verhindert in der Folge durch stark reduzierte Aggression nicht nur unnötige und für beide Seiten gefährliche Auseinandersetzungen; sie reguliert zugleich auch die Reproduktionsrate der Gruppe. Nach den Studien des inzwischen verstorbenen Wolfsforschers Erik Zimen muss dies als evolutive Anpassung an die räuberisch-umherstreifende Lebensweise der Wölfe gesehen werden.

Ähnliche Rollenverteilungen finden sich in vielen Affenverbänden etwa der Makaken und Paviane, die ihre Hackordnung nicht immer nur direkt ausfechten. Eine weniger streng lineare Rangordnung haben Schimpansen, und auch dies offenbar in Anpassung an ihre Lebensbedingungen in promisken, wechselnden Kleinverbänden. Primatenforscher wie Frans de Waal, die ein regelrechtes Geflecht von Dreiecksbeziehungen ermittelten, halten diese uns so nahe stehenden Menschenaffen für „wilde Diplomaten“. Schimpansen sind eingebunden in ein engmaschiges Netzwerk intensiver Abhängigkeiten und wechselnder Allianzen. Weniger offene Kämpfe als vielmehr Koalitionen, ja regelrechte Intrigen, „Geheimabsprachen“ und alte Verbindlichkeiten bestimmen die Bildung der Rangordnung – ganz so, wie wir dies aus den Führungs- und Chefetagen von Firmen, Verbänden und Vereinen bei uns selbst kennen.

Dabei kann so etwas wie persönliche Freundschaft zu einem ranghohen Tier durchaus von Nutzen sein; und die Koalitionen zweier Männchen etwa bei Makaken oder Schimpansen hilft diesen, die Spitze der Sozialhierarchie einzunehmen, die keines von ihnen allein behaupten könnte. Während Jungtiere etwa bei Rhesusaffen und Rotgesichtsmakaken den sozialen Rang von der Mutter ererben, weiß man sogar von Dohlen, dass die Verpaarung mit einem ranghohen Männchen den Sozialaufstieg fördert.

Viele Fische weisen dagegen unvollständige Rangordnungen auf. So gibt es beim Schwertträger Xiphophorus neben linearen Rangordnungen vor allem im oberen hierarischen Bereich ebenfalls Dreiecksbeziehungen in den unteren sozialen Regionen. Sozial ungegliedert sind die zahlenmäßig großen und in der Zusammensetzungen oft wechselnden Familienverbände vieler Säuger, wie etwa bei Elefanten. Dort ist nur die Spitzenposition mit einem erfahrenen Leittier besetzt, dem der Rest des Verbandes folgt und so von dessen Knowhow profitiert.

Dagegen herrscht bei sozial lebenden Wirbellosen wie etwa den staatenbildenden Insekten weniger eine Rangordnung als vielmehr eine oft genetisch bestimmte Arbeitsteilung. Dadurch wird etwa bei Ameisen und Termiten festgelegt, wer als Soldat Dienst tut; diese haben meist auch körperbauliche Merkmale wie größere Köpfe und stärkere Mandibeln, die sie für die Armeelaufbahn prädestinieren. Wer dagegen bei Honigbienen oder Wespen im Innendienst als Quartiermacher fungiert oder als Sammlerin im Außendienst unterwegs ist, wird durch das Alter festgelegt.

Ein weiteres Beispiel sind die amerikanischen Nacktschnabelhäher. Die in Gruppen lebenden Häher sind nicht nur hochsozial, sondern auch extrem auf die Samen zweier amerikanischer Kiefernarten spezialisiert. Diese produzieren in manchen Jahren Kiefernzapfen im Überfluß, in anderen fast gar keine. Die Häher haben ihre Fortpflanzung ganz auf den unregelmäßigen Rhythmus eingestellt, und ihr enges Gemeinschaftsleben im Verband erscheint als Anpassung auf die besondere Ernährungsweise. Hier die jeweilige Hackordnung genau zu kennen, könnte für Häher der Antrieb gewesen sein, ein feines soziales Gespür und entsprechende kognitive Fähigkeiten zu entwickeln. Dazu zählt neben dem individuellen Erkennen von Gruppenmitgliedern auch das Ableiten ihres Sozialstatus. Denn je größer die Gruppe, desto zeit- und kraftraubender ist das Aushandeln einer Hackordnung durch direkte Auseinandersetzungen. Indem Forscher in Käfigexperimenten einzelnen Hähern erlaubten, die Interaktionen etwa um Futtergaben eines ihnen bekannten mit einem unbekannten Artgenossen zu beobachten, förderten sie deren Vorerfahrung in Sachen Rangordnung. Wenn dieser Vogel dann in einem weiteren Experiment selbst auf den zuvor unbekannten Häher traf, verhielt er sich eher unterwürfig, wenn er zuvor beobachtet hatte, dass sein Gegenüber bereits eine dominante Stellung einnahm.

Der Druck, eine Hackordnung erkennen zu müssen, könnte somit die Entwicklung der Intelligenz und des Bewusstsein vieler Arten – nicht nur des Menschen – stark vorangetrieben haben.

Matthias Glaubrecht

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