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Gesundheit: Wissenschaftskolleg: Meister der Netzwerke

"Politikberatung ist ein Wort, das ich nie benutzt habe." Das sagt Wolf Lepenies, einer der erfolgreichsten Wissenschaftler auf dem Feld der internationalen Wissenschaftshilfe für Osteuropa.

"Politikberatung ist ein Wort, das ich nie benutzt habe." Das sagt Wolf Lepenies, einer der erfolgreichsten Wissenschaftler auf dem Feld der internationalen Wissenschaftshilfe für Osteuropa. Lepenies ist Akteur, nicht Berater: Er hat Fakten geschaffen und Politiker, Stiftungen, ja andere Länder davon überzeugt, dass sie sich auch finanziell für die Hilfe engagieren sollten.

Für Lepenies gab es ein großes Thema nach dem Fall der Mauer und dem Zusammenbruch des Kommunismus: Wie kann verhindert werden, dass die besten Wissenschaftler des Ostens nach Jahren der Isolation für immer in den Westen abwandern? Wie können erfolgversprechende Nachwuchswissenschaftler im Osten möglichst schnell Konktakt zur internationalen scientific community bekommen?

Da bot sich das Berliner Wissenschaftskolleg mit seinen Erfahrungen geradezu an: Seit seiner Gründung im Jahr 1980 hat es den Auftrag, die durch den Nationalsozialismus zerstörten Brücken zu Emigranten und Wissenschaftlern in anderen Ländern neu zu schlagen. Dass sich das Kolleg zunächst an jüdische Emigranten richtete, war selbstverständlich. Schon zur Zeit der Spaltung bemühte sich Lepenies darum, vor allem aus Polen und der DDR herausragende Wissenschaftler als "Fellows" an das Kolleg in Grunewald zu holen.

Nach der Wende war es nur konsequent, in die Offensive zu gehen. Lepenies: "Das Wissenschaftskolleg sollte nicht nur ein Institute for Advanced Study für Deutsche werden, sondern für Europa." Und Europa versteht Lepenies im umfassenden Sinn.

Ein handelnder Intellektueller

Lepenies, der nach 15-jähriger Tätigkeit als Rektor des Wissenschaftskollegs am 30. September sein Amt aufgibt, hat über Melancholie promoviert. Die damals gewonnenen Erkenntnisse wurden prägend für das weitere Leben. "Intellektuelle schwanken immer zwischen Melancholie und Utopie. Entweder verzweifeln sie an der Welt oder sie wollen sie radikal verändern. Je mehr man denkt, um so weniger kommt man zum Handeln. Ich wollte ein handelnder Intellektueller sein."

Seit dem Zusammenbruch des Kommunismus engagiert sich das Wissenschaftskolleg in Ostmitteleuropa. Gemeinsam mit Schweden, Frankreich, den Niederlanden, Österreich, der Schweiz, Berlin und Baden-Württemberg sowie mit Hilfe der ThyssenStiftung wurde 1992 zunächst das Collegium Budapest ins Leben gerufen - als erstes Institute for Advanced Study in Osteuropa. Es funktioniert heute wie das Wissenschaftskolleg: Führende Wissenschaftler aus aller Welt werden als Fellows zu einem Forschungsaufenthalt für ein Jahr eingeladen und kommen dabei in Kontakt mit den einheimischen Wissenschaftlern aus den Universitäten.

Das Rezept, das zur erfolgreichen Gründung des Collegiums Budapest führte, ist typisch für die Arbeit des Wissenschaftskollegs. Immer werden mehrere Länder bei einer langfristigen Gründung ins Boot geholt, damit keine nationalen Eifersüchteleien entstehen. Immer sind Stiftungen als Finanziers dabei, und Fellows, die einmal am Wissenschaftskolleg weilten, beteiligen sich später an der Gründung anderer Institutes for Advanced Study. So funktionieren Netzwerke und entstehen neue.

Nach der Gründung in Budapest rief das Wissenschaftskolleg zusammen mit anderen internationalen Institutes for Advanced Study in den USA und Europa den New Europe Prize ins Leben, der an herausragende Wissenschaftler aus dem Osten vergeben wurde, um ihnen mit dem Preisgeld von 75 000 Mark eine neue Ausstattung als Starthilfe zu bieten. Das ist gelungen und die Preisvergabe beendet. Das New Europe College in Bukarest war der nächste Schritt: Es entwickelt sich nach nationalen Anfängen für die Rumänen jetzt zu einem Institut, das sich den Nachbarländern öffnet. Andrei Plesu, einst Fellow am Wissenschaftskolleg und späterer rumänischer Außen- und Kulturminister, hat es ins Leben gerufen. Einige Rumänen, die heute in Schlüsselstellungen der Banken und Ministerien arbeiten, sind aus dem New Europe College hervorgegangen.

Neuerdings wird eine solche Einrichtung auch in Bulgarien geplant. Zur Vorbereitung dient das dreijährige Projekt "Sofia Academic Nexus". Es verbindet geistes- und sozialwissenschaftliche Forschung vor Ort mit einem Netz interdisziplinärer Forschergruppen aus verschiedenen Ländern, die sich unter dem Namen "Blue Bird" zusammengefunden haben - gefördert von der Volkswagenstiftung. Plattform für die Aktivitäten sind die akademischen Zentren in Budapest, Bukarest, Belgrad und Sofia. Im russischen St. Petersburg wird die Bibliotheca classica gefördert - ein Forschungszentrum für Altphilologen, die das überlieferte Schrifttum pflegen und das Erbe zugleich an Schüler eines Gymnasiums übermitteln. Finanziert wird es mit Hilfe der Thyssenstiftung.

Und in Tiflis in Georgien entwickelt sich die nächste dieser Einrichtungen. Auch dort ist ein ehemaliger Fellow des Wissenschaftskollegs der Initiator: der Philosoph und Politologe Ghia Nodia. Es soll Doktoranden und Wissenschaftler aus Armenien, Aserbaidschan und Georgien zusammenführen und ein Beispiel für die friedliche Kooperation in den spannungsgeladenen Gebieten des Südkaukasus bieten, wo verschiedene Religionen aufeinander prallen.

Selbst Afrika steht inzwischen auf der Agenda des Wissenschaftskollegs - dort wird das Institut Point Sud in Mali gefördert. Es soll Talente südlich der Sahara ausfindig machen und sich zunächst den naheliegenden Problemen in der Region, der Medizin und der Agrarpolitik widmen. Es wird ebenfalls von einem ehemaligen Fellow des Wissenschaftskollegs aufgebaut: von Mamadou Diawara, einem Historiker und Anthropologen. Das Forschungszentrum Point Sud basiert wiederum auf einem anderen Netzwerk: dazu gehören das Afrika-Zentrum der Universität Bayreuth, die École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris und das Center for International Area Studies der Yale University in den USA. Finanzielle Hilfen kommen von dem Riksbanken Jubileumsfonds der Schweden, der Französischen Regierung, der Volkswagenstiftung.

Dieser Kreis taucht auch in anderen internationalen Projekten immer wieder auf. Denn die wachsenden internationalen Aufgaben sind mit Mitteln der deutschen Bund-Länder-Finanzierung nicht mehr zu leisten, obwohl das Wissenschaftskolleg gerade erst in die offizielle und damit dauerhafte Förderung der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung (BLK) aufgenommen worden ist. Die Hilfe von Stiftungen und anderer Länder wird immer wichtiger. Das zu organisieren, ist Wolf Lepenies im Laufe der Jahre gelungen. Kein Wunder, dass heute im Rat der Wissenschaftsstiftung Ernst Reuter, dem Träger des Wissenschaftskollegs, Repräsentanten der Schweiz, Schwedens und Frankreichs ebenso sitzen wie Wissenschaftler, Wirtschaftsbosse und Politiker. Vor einer Woche hatte sich Schweden in den Kreis der Stiftungsmitglieder eingereiht und damit zugleich einen Beitrag zur Finanzierung der internationalen Aufgaben des Wissenschaftskollegs geleistet.

Agora neu gedacht

Für die weiteren internationalen Aktivitäten verwendet das Wissenschaftskolleg erneut den Namen "Agora". Der antike Name "Agora" steht für die öffentliche Versammlung und war bisher mit dem Thema "Zukunft der Arbeit" belegt worden. Jetzt wird unter diesem Stichwort erforscht, auf welche Weise die Antike in den Geisteswissenschaften rezipiert wurde: in Frankreich mit starkem Akzent auf den Römern, in Deutschland eher mit Blick auf die griechische Antike. Welche Sicht auf die Aufklärung und die Moderne ist aus dieser unterschiedlichen Akzentuierung entstanden? Die Klärung dieser Frage kann eine Rolle für das geistige Selbstverständnis in Europa spielen - im Hinblick auf das gemeinsame Erbe. Auch Amerika kommt bei einer solchen Betrachtung wieder ins Spiel - Amerika als das auswärtige Europa.

Lepenies fast zusammen: "Wir haben Dinge gemacht, die von den Politikern beachtet werden mussten. Wir gehen in die Länder, nicht um Rezepte zu verteilen, sondern um zu schauen und zuzuhören. Wenn sich das Engagement lohnt, dann tun wir das." Aber nach wie vor ist viel Diplomatie angesagt: Wechselt die Regierung und mit ihr die Partei, die zuvor an der Gründung eines Institutes for Advanced Study beteiligt war, ist es keineswegs sicher, dass sich die neuen Minister des Projekts der Vorgänger vorbehaltlos annehmen. Lepenies gibt in solchen Fällen den Osteuropäern den Rat, auf die Kontinuität zu achten: "Demokratie ist, wenn sich die Regierung mit der Opposition regelmäßig zum Abendessen trifft."

Nach 15-jähriger Amtszeit als Rektor wird Wolf Lepenies am 30. September zurück ins Glied treten und danach "permanent fellow" sein - mit diesem Namen werden herausragende Wissenschaftler versehen, die in der Führung des Kollegs für die langfristige Planung zuständig sind. "15 Jahre als Rektor sind genug, danach muss ein Wechsel kommen. Ich wollte gerne selber gehen, bevor andere sagen, jetzt ist es Zeit." Sein Nachfolger als Rektor wird am 1. Oktober der ehemalige Richter am Bundesverfassungsgericht, Dieter Grimm. Er kennt das Wissenschaftskolleg seit Jahren genau, war er doch zunächst Vorsitzender des Beirats und seit einem Jahr ist er "permanent fellow".

Die Kontinuität zeigt sich auch in den vorauseilenden Planungen: Die Fellows für die nächsten beiden Jahrgänge sind schon ausgewählt. Für drei Jahre verstärkt der Iraner Navid Kermani den Schwerpunkt "Islam und Moderne". Auch die theoretische Biologie wird viele der neuen Fellows am Kolleg beschäftigen. Neue Themen kommen hinzu, auf die Grimm besonderen Wert legt wie die vergleichende Verfassungsgeschichte oder Wissenschaft und Öffentlichkeit. Ein neuer Schwerpunkt wird mit der medizinischen Anthropologie ins Leben gerufen. Dem Schwerpunkt der kulturellen Wechselbeziehungen zwischen Peripherie und Zentren widmet sich der herausragende Literaturkenner Stephen Greenblatt, der noch in diesem Monat zugleich zum neuen auswärtigen "permanent fellow" berufen werden soll.

Lepenies will sich künftig stärker journalistisch betätigen und weitere Bücher schreiben. Politische Aufgaben will Lepenies nicht mehr übernehmen - mehrfach war er im Gespräch als Wissenschafts- und Kultursenator in Berlin. Zuletzt sollte er Naumann-Nachfolger als Staatsminister für Kultur in der Bundesregierung werden.

Uwe Schlicht

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