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Gesundheit: Wolkenhände

Wie Tai-Chi-Übungen auch alten Menschen helfen, Stürze zu vermeiden

Die kleine Gruppe bewegt sich synchron durch den Raum. Fünf Männer und zwei Frauen machen langsame, geschmeidige Bewegungen, die wie ein Tanz anmuten. Ein Tanz mit einem gleichmäßigen Wechsel von Ein- und Ausatmen, von zurückweichenden, nach unten gerichteten Bewegungen und solchen, die sich nach oben öffnen. Unablässig verwandeln sich das aufnehmende Yin und das aktive Yang ineinander.

Die Übenden folgen einer fest vorgegebenen Choreografie und nehmen Positionen ein, die poetische Bezeichnungen haben: „Der Kranich breitet seine Flügel aus“ oder „Die Jadeprinzessin am Webstuhl“. Sie machen das, was Menschen in China tagtäglich in Parks praktizieren: Tai Chi Chuan, eine alte chinesische Bewegungskunst. Niemand spricht, der Ablauf ist allen vertraut. Nur hin und wieder begleitet der Lehrer, Thomas Karthaus, einige neu erlernte Yin- und Yang-Elemente mit Erläuterungen.

Tai Chi Chuan hat seine Ursprünge in der Kampfkunst, in der Meditationspraxis und der Heilkunst. Betrachtet man einen dieser Aspekte losgelöst von den anderen, versucht man etwa, die gesundheitlichen Aspekte in den Mittelpunkt zu rücken, stößt man an Grenzen. Tai Chi ist wie Qi Gong oder Yoga kein Gesundheitsturnen, obschon viele Leute wegen Knie- oder Rückenproblemen damit beginnen – und gute Erfolge erzielen können.

Auch die Schule für Tai Chi Chuan in Berlin-Schöneberg, in der Thomas Karthaus zusammen mit Monika Mewes unterrichtet, ist kein Gymnastikraum. Die gewissenhaften Anleitungen gelten einem langsamen, kontinuierlichen inneren Übungsweg. „Ein wichtiger Aspekt im Tai Chi ist es, ganz im Moment zu sein, ganz bei dem zu sein, was man gerade tut“, sagt Karthaus, der seine ersten Tai-Chi-Erfahrungen in den 70er Jahren während seines Sinologiestudiums in Taiwan gemacht hat. „Die langsamen Übungen helfen dabei, ein Gefühl dafür zu entwickeln, dass der ganze Körper an unseren Bewegungen beteiligt ist.“

In dieser Stunde korrigiert der 48-Jährige mehrfach die Haltung der Teilnehmer: Beim Tai Chi liegen Scheitelpunkt und Steißbein in einer Linie, Wirbel und Bandscheiben wie ein Stapel ausbalancierter Teller übereinander. „Viele Menschen haben Probleme mit der Wirbelsäule, weil sie ihre Bewegungen mit den Händen beginnen, und der Körper zieht dann irgendwie hinterher", sagt Karthaus. „Das gibt unheimliche Spannungen. Im Tai Chi lernt man, vom Zentrum und von den Lendenwirbeln her zu denken und zu agieren. Man lernt, Blockaden zu spüren und aufzuheben und auch verletzte Bereiche wieder in den Bewegungsablauf zu integrieren."

Gestärktes Gedächtnis

Das kann für ältere Menschen sehr hilfreich sein, bei denen die Kräfte nachlassen, deren Gleichgewicht und Reaktionsvermögen schlechter werden. Jedes Jahr stürzen etwa fünf Millionen Menschen über 65 hier zu Lande. In Folge eines solchen Sturzes müssen Jahr für Jahr 400000 von ihnen nach Knochenbrüchen ins Krankenhaus, 120000 erleiden einen Oberschenkelhalsbruch. Die meisten von ihnen stürzen im eigenen Haushalt, an Stellen und in Situationen, die sie ein Leben lang – den ihnen eigenen Bewegungsmustern folgend – gemeistert haben.

Dass sich viele solche Stürze mit regelmäßigen Tai-Chi-Übungen vermeiden ließen, hat Steve Wolf von der Klinik für Rehabilitationsmedizin der Emory Universität in Atlanta Mitte der 90er Jahre in einer Studie nachgewiesen, an der sich 150 Personen beteiligten. Sie waren 65 Jahre und älter und praktizierten ein Jahr lang Tai Chi – mit messbarem Erfolg. „Die Zahl der Stürze ging um 40 Prozent zurück", sagt Clemens Becker. Er ist Chefarzt der Klinik für Geriatrische Rehabilitation des Robert-Bosch-Krankenhauses in Stuttgart und hat die Häufigkeit von Sturzunfällen bei Heimbewohnern systematisch untersucht und dabei viele positive Auswirkungen von Tai Chi Chuan auf die Gesundheit registriert. Es schafft unter anderem ein besseres Bewusstsein für den Ablauf von Bewegungen.

Das lässt sich an einem Beispiel illustrieren: Stellen Sie sich mit dem Gewicht auf beide Beine. Was würden Sie tun, wenn Sie etwas links oben aus dem Schrank holen möchten? Probieren Sie es aus! Viele Personen strecken in diesem Fall zuerst die Hand aus, drehen den Oberkörper nach links, bleiben mit dem linken Bein am Platz und gehen mit dem rechten einen Schritt nach vorne links. Ein kompliziertes, gerade in hektischen Situationen unfallträchtiges Manöver.

Wer regelmäßig Tai Chi praktiziert, hat nicht nur ein langsames Tempo, sondern auch eine andere Abfolge der Bewegung verinnerlicht: Um nach links zu gehen, verlagert er das Gewicht zunächst auf das rechte Bein (Yin), öffnet erst dann den Oberkörper leicht nach links und geht mit dem linken Bein nach vorne (Yang). Das ist viel sicherer und bequemer und wird etwa in der regelmäßigen Übung „Wolkenhände“ vorbereitet und dabei von Armen und Händen begleitet.

„Tai Chi ist eine ideale Form des Trainings, um die motorischen, aber auch die geistigen Fähigkeiten zu erhalten und zu verbessern“, sagt Becker. Er hat festgestellt, dass auch die Gedächtnisleistung bei älteren Menschen, die Tai Chi praktizieren, zunimmt, dass sie sich etwa Wortlisten besser merken können.

„Tai Chi hat sehr viele Aspekte“, sagt die 58jährige Tai-Chi-Lehrerin Monika Mewes. „Es geht auch darum, Achtsamkeit für den eigenen Raum zu entwickeln, den eigenen Raum zu halten, aber dabei weich zu sein, nicht wegzuschieben.“ Erst die eigene Zentriertheit gibt die Kraft, nach außen adäquat zu reagieren. Sie lässt die Bewegungen entspannt erscheinen und macht die Tai-ChiSchule in der Akazienstraße zu einer von vielen in Berlin, die einen Kontrapunkt zur Hektik des Alltags bilden. „Aber der Unterricht ist nur eine Spielwiese“, sagt Monika Mewes, die in den 70er Jahren über Tanz zum Tai Chi gekommen ist. „Es ist Aufgabe jedes einzelnen, das, was man dort erfährt, ins Leben zu übertragen.“

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