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Gesundheit: Zehn Jahre Wissenschaftspolitik: Ein kritischer Blick zurück

Jeder Rückblick schreibt die Geschichte neu. Wir bilden uns ein, daß wir die Dinge schärfer sehen, weil zehn Jahre vergangen sind.

Jeder Rückblick schreibt die Geschichte neu. Wir bilden uns ein, daß wir die Dinge schärfer sehen, weil zehn Jahre vergangen sind. Weil wir von unseren Taten, die wir selbstredend "Ereignisse" nennen, um die Verantwortung von uns abzustreifen, einige Schritte zurückgetreten sind. Tatsächlich sehen wir nichts besser, sondern bloß Anderes. Vieles ist vergessen. Manches wurde abgeschnitten. Neue Zugaben und Aufhäufungen haben die Dimensionen verschoben und die alten Schichten überlagert. Die schärferen Konturen sind in Wahrheit Reduktionen. Die Folgen geben sich als Entwicklungen aus, zwingend wie das alte Kausalitätsprinzip, und sind doch nur zufällige Gerinnungen an den Rändern des Mäanders.

Wissenschaftspolitiker wollen davon nichts hören. Wie sollten sie sonst noch unbefangen Worte wie "Steuerung", "Planungssicherheit", "Programm" aussprechen? Das Wissenschaftlerintegrationsprogramm, das in den frühen 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts positiv beurteilten Akademiewissenschaftlern die Chance bieten sollte, von den Hochschulen übernommen zu werden, ist vergessen. Die Wissenschaftler auch. Das Programm hat sich in persönliche Geschichte verwandelt. In den meisten Fällen eine Erfolgsgeschichte, so sagt die Statistik. Nicht meistens: eine Misserfolgsgeschichte, was die Statistik auch nicht verschweigt. So kommt es zur statistischen Evaluation eines Irrtums.

Ein Irrtum des Wissenschaftsrats

Der Irrtum war ein Irrtum des Wissenschaftsrates. Er hatte die Wissenschaftler der DDR evaluiert. Nicht alle. Nur die Wissenschaftler der aufgelösten "Akademie der Wissenschaften der DDR". Die hielt er aber für "fast" alle, weil er glauben wollte, was er gehört hatte. Nämlich, dass an den Hochschulen lediglich akademische Lehrer säßen, denen man durch die überzähligen Akademieforscher eine schöne Aufbesserung zuteil werden lassen wollte. Tatsächlich saßen in den Hochschulen nicht einmal "im Wesentlichen" Lehrer. Sondern auch sehr viele Forscher, die jetzt wenig Lust verspürten, bei der Integration derjenigen zu helfen, die zuvor manches Privileg genossen hatten. Das Boot war voll. Wie voll wurde richtig klar, als die Sparverordnungen nicht nur Zustiege verhinderten, sondern obendrein Ausstiege erzwangen.

Das würden wir heute besser machen! Wirklich? Der Irrtum hat nicht die Auflösung der Akademie der Wissenschaften verursacht und die Aufgelösten hätten auch ohne den Irrtum nicht restlos in irgendwelchen neuen Einrichtungen untergebracht werden können. Es sei denn, die Akademie wäre nicht aufgelöst worden, und die DDR wäre nicht in fünf neue Bundesländer zerfallen, und man hätte nicht das veraltete westdeutsche Wissenschafts- - und auch sonst - System bei den Ostmenschen eingeführt. Für das dann einzige neue Bundesland "DDR" wäre aus seiner Akademie eine selbstständige Leibnizgesellschaft geformt worden. Es sei denn.

Aber das "Überstülpen", wie es so infam heißt, das hätten wir Besserwisser aus dem Westen lassen sollen. Obwohl es den Ostwissenschaftlern nachweislich herzlich willkommen und dringend erwünscht war und nicht schnell genug bewerkstelligt werden konnte. Das "Überstülpen" unserer Wissenschaftsform West über die Wissenschaftsform Ost. Heute würden wir zunächst ganz gelassen und ohne Zeitdruck die beiden deutschen Systeme bewerten, vergleichen, nach dem Pro und Kontra abwägen und abstimmen und dann sorgfältig zusammenfügen. Nichts würde nur deshalb geschlossen, weil es im Westen "auch" oder "so ähnlich" und damit automatisch besser gemacht wird. So wie wir es mit der Verfassung des gesamten Staates vorhatten. Der Herr hat schließlich die Schöpfung auch nicht atemlos durchgezogen. Aber am Ende wurde dann aus der DDR doch das "Beitrittsgebiet" und die Verfassung blieb die alte, wie auch das Wissenschaftssystem das alte geblieben ist. Hätten wir heute mehr Muße und weniger Selbstsucht?

Aber heute würden wir viel unpolitischer und neutraler vorgehen. Nicht so, als hätten wir den Marxismus in seinem SED-Staat besiegt, obwohl sich doch beide selbst ruiniert haben. Wir würden bestimmt weniger unter dem Eindruck handeln, als sei die Geschichte zu Ende, und deshalb mancher überflüssig, der eben noch furchtbar wichtig war. Zweifellos würden die Akteure der Gegenwart mehr zuhören und weniger reden, und nicht so hurtig die wissenschaftlichen Charaktere nach dem Kriterium "staatsnah" und "staatsfern" sortieren, inklusive Privatrache und aller sonstigen kleinen und großen Ungerechtigkeiten, die solche Personalauslesen mit sich bringen. Vielleicht. Aber doch nicht sehr wahrscheinlich. Und andererseits: Gibt es tatsächlich jemanden, der den Marxismus wirklich vermisst?

Die meisten gingen von West nach Ost

Das Wissenschaftssystem hat durch die Vereinigung nicht gelitten. Aber auch nicht eigentlich profitiert. Wissenschaftler haben profitiert. Einige aus dem Osten, die umgehend nach dem Westen gezogen sind. In den deutschen Westen. Es sind Fälle bekannt geworden. Mehrere sind noch weiter nach Westen gezogen, transatlantisch, wo sie eigentlich nie hinwollten. Ihr Umzug hatte nur selten wissenschaftliche Gründe. Die meisten Wissenschaftler sind allerdings nach Osten gezogen. Eigentlich der gesamte westliche Vorrat. Die Pipeline war plötzlich leer. Dem Westen hat das genutzt. Dem Osten hat es am Ende nicht geschadet, auch wenn er nicht ausschließlich die idealistischen Spitzenmenschen bekam, die er sich erhofft hatte. Die Farben haben sich inzwischen vermischt.

Die Universitäten und Fachhochschulen in der heutigen Bundesrepublik unterscheiden sich deutlich. Aber nicht nach ihrer Lage im Osten oder Westen. Manche sind gut, viele sind schlecht. Die meisten sind anscheinend beides, weil in den Urteilen der Bewerter der Wert des einen als die Wertlosigkeit des anderen figuriert. Die Studierenden lassen sich offenbar gern in den Osten verteilen. Jedenfalls solche, die sich die Verhältnisse überschaubar wünschen und wärmer. Wer es lieber kälter hat und zufrieden ist, wenn die Betreuung in der Schule bleibt, kann immer noch nach München oder Münster gehen. Man könnte diesen Befund "Normalität" nennen.

Die dicken Probleme haben die Hochschulen in West und Ost jetzt gemeinsam. Gibt es Studiengebühren und wer bekommt sie am Ende? Schaffen wir die Internationalisierung unserer Studiengänge und wann? Gelingt es, Elitebildung und Massenausbildung unter einen Hut zu zwingen und unter welchen? Das Hauptproblem ist nach wie vor die differenzierte und hochqualifizierte Ausbildung unserer Studierenden in einer ihren Fähigkeiten und Bedürfnissen angemessenen Weise.

Der Mittelbau Ost war keine Karrierestufe, sondern ein Beruf, dessen Vertreter die Jugend bepaukten und arbeitszeitlebens zufrieden dem "Ordinarius" assistierten. Dem Beruf wurde der westdeutsche Assistent als Karrieremuster "übergestülpt", was ihn ruinierte. Jetzt kommt der "Juniorprofessor", der schon deshalb, weil er einer Reformidee entspringt, selbstverständlich etwas ganz anderes ist. Wer allerdings in Zukunft assistieren wird, ist zur Zeit noch Gegenstand von Verhandlungen, und wer am Ende mit den Studenten das Lernen üben wird, muss sich noch zeigen.

Zu viele Forschungsinstitute

Die neuen außeruniversitären Einrichtungen des Ostens haben sich eingerichtet. Es sind viele geworden - Max Planck-Institute, Institute der Fraunhofer-Gesellschaft, der Helmholtz-Gemeinschaft, der Gottfried Wilhelm Leibniz-Gemeinschaft usw. Eher zu viele als zu wenige. Aber sie werden regelmäßig evaluiert. Manche laufen wie hundert Teufel in die strahlende Zukunft von Forschung und Entwicklung, andere hinken hinterher und werden von ihren Gründern ohne Heiterkeit betrachtet. Ost/West-Gemeinsamkeiten. Hier müsste noch ein Stück gegründet und dort sollte ein Teil fast schon geschlossen werden. Ostalltag plus Westalltag.

Institutionell ist die Vereinigung der Wissenschaft nach zehn Jahren schwerlich als misslungen zu bezeichnen. Dass das Ergebnis für Freudentränen reicht, wird sicher niemand behaupten. Aber besser ging es offenbar nicht und anders würde es vermutlich auch heute nicht gehen, selbst wenn wir die ganze Wiedervereinigung noch einmal machen dürften. Weil wieder nur fehlbare Menschen und nicht Götter sich an einer neuen Ordnung der Dinge versuchen müssten.

Der Autor war in der Zeit der Wende bis 1992 Vorsitzender des Wissenschaftsrats und ist seit 1995 Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Der Wissenschaftsrat suchte die Gutachter aus, die die Forschungsleistungen in der ehemaligen DDR beurteilten. Der Wissenschaftsrat gab den Politikern Empfehlungen für die Neuordnung nach der Wiedervereinigung. Insofern trug er Mitverantwortung, soweit die Politiker den Empfehlungen des Gremiums folgten.

Dieter Simon

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