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Augenmuskeltrainig. Was der Autor da in der Hand hält, ist eine so genannte Brockschnur: Man konzentriert sich auf die bunten Kugeln und lernt dabei, etwas mit beiden Augen synchron zu fixieren. Fotos: Doris Spiekermann-Klaas

© Doris Spiekermann-Klaas

Speed Reading: Fitnesstraining für die Augen

Wer schnell lesen kann, kann viel Zeit sparen, im Job, aber auch im Privatleben. Kurse, die den Teilnehmern versprechen, ihnen beizubringen, schneller zu lesen, gibt es viele - aber halten sie ihre Versprechen auch?

Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber nach einem durchschnittlichen Sommerurlaub warten in verschiedenen Postfächern insgesamt Hunderte ungelesene E-Mails auf mich. Von Zeitschriften und Büchern, die ich irgendwann einmal lesen möchte, will ich gar nicht weiter reden. Wäre es nicht ideal, wenn man einfach ein bisschen schneller lesen könnte? Auch um nach dem Urlaub nicht sofort wieder in Stress zu geraten. Für dieses Ziel habe ich vor meinem Urlaub in diesem Jahr ein zweitägiges Seminar besucht, um genau das zu lernen.

Mit zehn weiteren Teilnehmern finde ich mich an einem Donnerstagmorgen am Leipziger Platz ein. Der Anbieter des Seminars heißt Improved Reading und verspricht auf seiner Webseite "Schneller lesen und gleichzeitig mehr vom Text verstehen". Nur wer schneller lese, laste sein Gehirn auch richtig aus und schweife nicht ständig ab, heißt es weiter. Na mal sehen. Wir Teilnehmer sind ein bunter Haufen mit einer Gemeinsamkeit: Im Beruf lesen wir viel. Eine Mitarbeiterin eines Bundesministeriums, die viele Gesetzestexte lesen muss, ein Literaturforscher, ein IT-Fachmann, die Personalleiterin eines Fahrzeugherstellers, deren Postfach nach eigenem Bekunden jeden Tag so aussieht wie meins nach dem Urlaub.

Durchschnittlich liest man zwei Stunden am Tag

Unser Seminarleiter heißt Friedrich Hasse. Er hat bereits in mehr als 500 Kursen Teilnehmer im Schnelllesen geschult. Der durchschnittliche Büroarbeiter in Deutschland lese anderthalb bis zwei Stunden am Tag, erzählt er. Die Hälfte der aktuellen Kursteilnehmer meint, auf mehr als vier Stunden zu kommen. Unser Trainer verspricht, dass wir unsere individuelle Lesegeschwindigkeit verdoppeln könnten. Das Minimum, das langfristig hängen bleibe, sei ein Viertel an Verbesserung. Selbst damit ließen sich im Schnitt zehn ganze Arbeitstage im Jahr gewinnen, rechnet Hasse vor. Andere Anbieter auf dem etwas unübersichtlichen Markt für Schnelllesen versprechen mitunter Steigerungen um das Zehnfache. Das klingt nicht mehr seriös, kostet aber wie bei allen anderen auch mehrere Hundert Euro pro Seminar.

Zurück zu unserem Kurs. Wir ermitteln erst einmal unsere aktuelle Lesegeschwindigkeit, um einen Anhaltspunkt zu haben, von dem aus wir uns verbessern sollen. In dem vorgegebenen Text geht es – wie passend – um Konzentration. Beim Lesen läuft die Uhr, danach warten Multiple-Choice-Fragen zum Verständnis. Ergebnis: Mit 250 Wörtern pro Minute liegt der Kursschnitt über dem Normalleser. Auch das Verständnis ist besser. Ich komme zwar auf eine Rate von 327, habe aber offenbar das schlechteste Verständnis von allen. Bin ich der typische Journalist, der nur oberflächlich liest, und damit die Bestätigung eines weit verbreiteten Klischees? Tatsächlich dachte ich, die wichtigen Aussagen des Testtextes verstanden zu haben. Doch dann wurden viele Details abgefragt, die ich offenbar überlesen hatte.

Vom Perfektionismus loskommen

Egal, weiter geht es mit einer Augenübung. Wir überfliegen Reihen von Wörtern, Zahlen, Buchstabenkombinationen und Synonymen und sollen Gemeinsamkeiten erkennen. Wieder gegen die Uhr. Kaum jemand macht Fehler, doch nur die wenigsten halten die vorgegebene Zeit ein. Unser Trainer Hasse erklärt uns, es sei wichtig, vom Perfektionismus loszukommen. Man solle sich Fehler gestatten. „Am besten ist es, wenn Sie Ihren Augen freien Lauf lassen.“ Zunächst stehe das schnelle visuelle Erfassen im Vordergrund. „Erst geht es um Geschwindigkeit, dann um das Verständnis“, trichtert er uns ein. In der ersten Pause macht unter den Teilnehmern bereits das Wort „Augenmuskelkater“ die Runde. Hasse bestätigt, dass uns ein dichtes, anstrengendes Programm erwarte. Wir werden mit den Augen konzentriert Dinge tun, die sie so nicht gewöhnt sind. Zum Beispiel mit einer so genannten Brockschnur, auf der bunte Kugeln aufgefädelt sind. Indem man die konzentriert aus kurzer Entfernung ansieht, lernt man, etwas mit beiden Augen synchron zu fixieren.

In der Regel lernen wir Lesen in der Grundschule. Zunächst die Buchstaben, dann die Wörter und schließlich gewöhnen wir uns ab, laut zu lesen. Hasse klärt uns auf, welche Fehler normale Leser aus seiner Sicht machen würden: Sie springen zu oft im Text hin und her, fixieren Wort für Wort und lesen alles leise mit. Auch ineffiziente Lesestrategien und gedankenloses Lesen verlangsamten unnötig. Hasse zieht den Vergleich zum Autofahren: Wer dort nicht ganz bei der Sache sei, fahre auch langsamer.

Im Seminar geht es mit Übungen und Tests weiter. Wir versuchen, weniger im Text zu springen, nicht jedes Wort einzeln sondern zusammenhängende Wortgruppen zu fokussieren und weniger innerlich mitzulesen. Zwischendurch entspannen wir gezielt unsere Augen, schauen Bäume an oder massieren die Schläfen – wie ein kompakter Fitnesskurs für die Augen. Ein sogenannter Rate Controller wird eingeführt: Einer Guillotine gleich fährt ein Balken mittels Federmechanismus von oben nach unten über eine Textseite. So wird man gezwungen, in der eingestellten Geschwindigkeit immer weiter zu lesen, ohne etwa zurückzuspringen. Zum Üben gibt es Erzählungen von Jack London. Ich verstehe mittlerweile kein Wort mehr von dem, was ich mit den Augen überfliege. Hasse ist zufrieden und alle Teilnehmer fragen sich am Abend, wie nun das Verständnis wieder hinzukommen soll.

Die Schnelllesetechnik unbewusst anwenden

Am nächsten Morgen erzählt der Literaturforscher, er habe zu seiner Frau gesagt, er könne nun schnell lesen, dafür verstehe er nichts mehr. Unser Trainer sagt, dass es am Ende auf das Üben ankomme. Man könne jahrzehntelange Gewohnheiten nicht in zwei Tagen über den Haufen werden. Oftmals seien Musiker und Sportler gute Teilnehmer, weil sie um den Wert des Übens wüssten. Das Ziel ist, die Schnelllesetechnik irgendwann unbewusst anzuwenden. "Je ruhiger und gelassener Sie werden, desto besser wird auch das Verständnis." Er selbst habe seine Geschwindigkeit bei geeigneten Texten auf etwa 550 Wörter pro Minute gesteigert. Zur Wahrheit gehört, dass Schnelllesen nicht bei allen Textarten gleichermaßen funktioniert. Es eignet sich eher für leichte bis mittelschwere Sachtexte oder Romane.

Nachdem wir den ganzen ersten Tag versucht hatten, unsere Augen auf Geschwindigkeit zu trimmen, empfiehlt Hasse nun, nach und nach etwas davon zurückzunehmen und auch wieder mehr auf das Verständnis zu achten. Und siehe da: Im Verhältnis scheint es mir, als ob ich wieder mehr Zeit beim Lesen hätte, dabei liegt mein Tempo noch immer über dem Ausgangswert vom Seminarbeginn. Auf dem Papier haben wir Teilnehmer im Schnitt am Ende die Lesegeschwindigkeit verdoppelt. Ich selbst lese die vorgegebenen Texte mit 511 Wörtern pro Minute und sehr gutem Verständnis. Dass das auch mit der Auswahl der Testtexte und vor allem der Gewöhnung an die Übungsmechanismen zusammenhängt, lässt mich allerdings etwas skeptisch zurück. Längst nicht alles, was in entsprechenden Seminaren gelehrt wird, entspricht zudem dem neuesten Forschungsstand - egal, ob ein Anbieter Improved, Speed oder Smart Reading verspricht. Wir können aber schneller lesen, als wir es meist tun, so viel ist klar. Es ist wie beim Laufen: Durch Übung und ausreichend Motivation lässt sich die Geschwindigkeit merklich steigern. Seminare liefern im Idealfall zumindest den richtigen Rahmen, um sich zum Üben zu motivieren.

Mittlerweile bin ich aus meinem Sommerurlaub zurück, habe meine E-Mails abgearbeitet, merke aber, dass ich weder Musiker noch Sportler bin. Kontinuierliches Üben war meine Sache bislang leider noch selten. Vielleicht sollte ich doch demnächst den dreistündigen Auffrischungskurs besuchen, den Improved Reading anbietet? Um zu erfahren, wie es den anderen Teilnehmern ergangen ist, habe ich sie alle angeschrieben und nach ihren Erfahrungen gefragt. Einige antworteten und berichteten, dass sie die erlernten Techniken weiter anwenden und ihre Lesegeschwindigkeit tatsächlich höher sei als vor dem Seminar. Andere meldeten sich allerdings gar nicht. Ob meine E-Mail wohl noch ungelesen in ihrem Postfach schlummert?

Dieses Stück erschien zuerst im Wirtschaftsmagazin "Köpfe" aus dem Tagesspiegel-Verlag, das Sie hier bekommen können: Tagesspiegel Köpfe bestellen

Infos zu Speedreading-Kursen:

Improved Reading
www.improved-reading.de

Ritter Speed Reading
www.ritterspeedreading.de

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