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Melanie Lorek, Soziologin und Gründerin des Netzwerkes "3rd Generation Ost-USA"

© privat

Dritte Generation Ostdeutschland: "Identität ist kein starres Gehäuse"

Melanie Lorek ist 1981 in Ost-Berlin geboren und in Friedrichshain aufgewachsen. Die Soziologin lebt heute in New York und hat 2012 zusammen mit der Kulturwissenschaftlerin Katrin Bahr das Netzwerk "3rd Generation Ost-USA“ gegründet.

Wann sind Sie das erste Mal auf die Initiative "Dritte Generation Ostdeutschland" gestoßen?

Ich glaube, das erste Mal hat mich ein Bekannter auf das Netzwerk aufmerksam gemacht. Gleichzeitig habe ich auch in den Medien von der Initiative gehört. Was mich am meisten daran interessiert hat, war die Möglichkeit, die DDR-Vergangenheit nicht nur neu zu betrachten und zu diskutieren, sondern auch aus einer DDR-Perspektive heraus. Ich denke, dass in den Medien und auch im akademischen Bereich zwar sehr viel über die DDR gesprochen wird, man aber nur selten von ehemaligen DDR-Bürgern selbst hört. Und wenn, dann geht es oft nur um Stasi, Mangelwirtschaft und Reiseverbot. Es geht aber selten um Alltagsgeschichten oder -perspektiven, die doch oft sehr viel komplexer sind.

Warum haben Sie zusammen mit Katrin Bahr das Netzwerk "3rd Generation Ost-USA" gegründet?

Wir haben unserem Netzwerk bewusst den englisch-deutschen Namen "Third Generation Ost USA" gegeben, weil das genau unser Anliegen war: Deutsche und US-Amerikaner zusammenzubringen, die Interesse an der DDR und dem wiedervereinigten Deutschland haben. Wir wollten eine Plattform schaffen, die Menschen verbindet. Damit haben wir auch unsere Nachwuchsförderung ein bisschen selbst in die Hand genommen, denn wir sind ja beide Doktorandinnen, die über DDR-Themen forschen.

Wie wurde das Netzwerk bisher angenommen, und was planen Sie in Zukunft?

Es bringt hier nichts, ein Netzwerktreffen zu organisieren und alle einzuladen, weil alles sehr weit auseinander liegt und sehr kostspielig ist. Wir versuchen deshalb, die Menschen vor Ort zu treffen. Konferenzen bieten sich dafür wunderbar an. Im Februar 2014 hatten wir unser erstes Panel zum 25-jährigen Jubiläum des Mauerfalls im Rahmen der jährlichen Soziologie-Konferenz an der Ostküste. Im September dieses Jahres hatten wir eine ganze Panelreihe zum Thema "Dritte Generation Ost" im Rahmen der Konferenz der "German Studies Association". Dort haben sich zwölf Wissenschaftler aus drei verschiedenen Ländern mit der Frage auseinandergesetzt: "Was ist die Dritte Generation Ost?" Außerdem planen wir eine Eventreihe zum 25-jährigen Jubiläum des Mauerfalls.

Hat die amerikanische Öffentlichkeit aktuell Interesse an "25 Jahre Friedliche Revolution" und dem Mauerfall in der DDR?

In den Massenmedien spielen diese Themen eher keine Rolle. Es gibt allerdings eine Studie von Amy Corning und Howard Schuman, die zeigt, dass viele US-Amerikaner, wenn sie nach wichtigen historischen Ereignissen in ihrem Leben befragt werden, den Fall der Mauer als eines dieser wichtigen Ereignisse aufzählen. Das finde ich schon bemerkenswert, denn es zeigt, wie einschneidend dieses Erlebnis eben auch als Weltereignis war.

Welche Erinnerungen verbinden Sie mit der DDR, der Wende und der Wiedervereinigung?

Ich bin in Berlin-Friedrichshain aufgewachsen. 1988 ist meine Familie in einen Plattenbau nach Hellersdorf gezogen und 1996 zurück nach Friedrichshain. Ich glaube, eines der großen Missverständnisse ist, dass Menschen ohne ostdeutschen Hintergrund denken, mit der Wiedervereinigung sei die DDR schlagartig verschwunden. Das habe ich aber nicht so empfunden. Natürlich kann ich mich noch gut an den Fall der Mauer, die Währungsunion und die Wahlen 1990 erinnern. Das war eine Zeit großer Aufgeregtheit und Ungewissheit. Ich erinnere mich noch gut an ein Gespräch zwischen meinem Vater und meinem Großvater kurz nach dem Ausbruch des zweiten Golfkrieges und ihre Befürchtungen eines Atomkrieges. Es war einfach alles durcheinander, und es schien wirklich alles möglich. Im Guten, aber auch im schlechten Sinne. Bis zur 13. Klasse kamen alle meine Lehrer aus der DDR. Der Lehrplan war natürlich ein West-Lehrplan, aber trotzdem haben wir viel Bertolt Brecht und Anna Seghers gelesen. Wertvorstellungen, die im wiedervereinigten Deutschland oft nicht mehr vertreten wurden, überdauerten in meinem ostdeutschen Bekannten- und Verwandtenkreis und es fiel vielen schwer, sich den neuen Werten anzunähern.

Als was fühlen Sie sich heute – als Deutsche, als Ostdeutsche oder als Europäerin?

Es kommt darauf an. Identität ist ja kein starres Gehäuse, sondern kontextabhängig. Hier in den USA bin ich, glaube ich, eher die Deutsche oder eben auch die Europäerin. Wenn ich jemanden näher kennenlerne, unterhalten wir uns aber auch über meine DDR-Herkunft. Oft spielt mein nationaler Hintergrund aber gar keine Rolle. Für meine Freunde bin ich einfach Melanie, für meine Studenten bin ich Dozentin, für meine Doktormutter bin ich Doktorandin. Da treten einfach andere Aspekte meiner Identität in den Vordergrund. Allerdings wird meine Hautfarbe hier in den USA zum Identitätsmerkmal, denn "race" ist hier ein viel diskutiertes und wichtiges Thema. Darüber habe ich mir in Deutschland nie Gedanken gemacht. Als weiße Europäerin hat man es oft leichter als andere. Ich muss zum Beispiel auf der Post oder in ausweispflichtigen Gebäuden oft meinen Ausweis nicht vorzeigen. Während viele meiner nicht-weißen Freunde sofort als verdächtig gelten. Als weiße Europäerin ist man, ungerechtfertigterweise, erst einmal relativ unverdächtig und auch privilegiert.

Wie bewerten Sie aus der räumlichen Distanz das aktuelle deutsch-deutsche-Verhältnis?

Ich hoffe, dass die Arbeit der Netzwerke der Dritten Generation es schaffen, den Dialog aufrechtzuerhalten, und die ostdeutsche Stimme in der medialen Debatte stärker zum Vorschein kommt. Momentan wird noch sehr viel von Westdeutschen über die DDR geredet. Wir haben zwar eine ostdeutsche Bundeskanzlerin und einen ostdeutschen Bundespräsidenten, aber von Joachim Gauck hatte ich mir eine ausgewogene Debatte erhofft. Auch Joachim Gauck bedient sich einer dichotomen Rhetorik, in der die DDR als "unfrei" und das wiedervereinigte Deutschland als "frei" charakterisiert wird. Ich finde solche Gegenüberstellungen schwierig, denn sie verhindern nicht nur die Möglichkeit zu einer Debatte in die Tiefe, sondern idealisieren auch die Situation im wiedervereinigten Deutschland.

Als ich Interviews mit ehemaligen DDR-Bürgern für meine Doktorarbeit geführt habe, berichteten mir viele davon, dass sie in der DDR die Möglichkeit hatten, ihren Vorgesetzten offen zu kritisieren. Nicht politisch, aber wenn es um Arbeitseffizienz oder Anweisungen ging. Das geht heute oft nicht mehr, denn viele befürchten, ihre Arbeit zu verlieren, wenn sie offen Kritik üben. Ich kenne das aus eigener Erfahrung. Man hält dann lieber die Klappe und macht einfach weiter. Ich glaube, wenn wir einen offeneren und gleichgewichteten Dialog mit ehemaligen DDR-Bürgern über deren Erfahrungen in der DDR hätten, könnten wir noch viel voneinander lernen.

Gibt es irgendeinen "DDR-Held" oder eine "Heldin" aus Ihren Kindertagen?

Den sowjetischen Kosmonauten Juri Gagarin fand ich immer toll, und meine Eltern haben viel Reinhard Mey gehört, auch wenn der aus dem Westen kam. Den mag ich immer noch.

Weiter Informationen finden Sie auf der Homepage des Netzwerkes.

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