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Die erste Laufrunde im Westen: Der Berlin-Marathon ist das Ziel

Die Mauer ist auf. Für Tagesspiegel-Leser Manfred Püschner ist klar, was er als erstes machen will. Als begeisterter Läufer will er seine erste Trainingsrunde im Westen absolvieren.

Die DDR-Führung duldete keine abfälligen Bemerkungen über die Berliner Mauer. „Mauer“ war unter Vertrauten üblich, ansonsten suspekt. Offiziell hieß sie „antifaschistischer Schutzwall“, und der zügelte jene, die sich mit dem „Sozialismus“ auf deutschem Boden nicht abfanden: Bonner Revanchisten, NATO-Generäle. Mit der „Sicherung der Staatsgrenze“ – so die verordnete Lesart - hätte die DDR am 13. August 1961 einen Sieg errungen, gar den Frieden gerettet. Dieser August-Tag wurde in Ostdeutschland begangen wie einst der Sedan-Tag im Kaiserreich: mit Siegesfeiern, Selbstbeweihräucherung, martialischen „Kampfappellen“, auch mit Sonderbriefmarken.      Strikt ausgeblendet blieb die Wirklichkeit: Die DDR-Führung hatte 1961 West-Berlin abgesperrt und damit das letzte Tor für ein risikoloses Entkommen aus ihrem Staat geschlossen – erst mit Stacheldraht, dann mit Mauer und einem „Sperrgebiet“ voller Hindernisse. Letzteres befand sich nicht auf der dem „Klassenfeind“ zugewandten, sondern auf der DDR-Seite. Die Mauer beendete das Ausbluten der DDR, stoppte den anschwellenden Strom von Flüchtenden, von meist Jungen und gut Ausgebildeten. Wer die Mauer überwinden wollte, spielte mit dem Leben. Auf den wurde gezielt geschossen. Bereits eine Fluchtabsicht wurde hart bestraft.     Mit der Berliner Mauer hatte Moskau sein Terrain zu 100 Prozent verbarrikadiert - von Bulgarien bis zur Ostsee. Im eingemauerten Westberlin war sie besonders eindrucksvoll zu besichtigen, als perfides Zeugnis realsozialistischer Abschottung und der Ost-West-Konfrontation.

Daher feierte alle Welt ihr Ende als Befreiung von der Geißel des kalten Krieges, obwohl andere dafür mehr als die Berliner riskierten: die Polen, Gorbatschow in Moskau, Ungarns Führung, zuletzt DDR-Deutsche in Plauen, Leipzig und anderswo. Die Massenflucht und die Protestkundgebung auf dem Berliner Alexanderplatz am 4.November offenbarten: 40 Jahre „Realsozialismus“ reichen den Ostdeutschen. Deren greise Führung hatte sich auch noch mit Moskaus Reformern überworfen, versuchte dann zu spät und zögerlich umzusteuern. Die CSSR ließ ab 4. November alle aus der DDR Flüchtenden in den Westen ausreisen. Die „gesicherte“ DDR-Grenze war ausgehebelt.

Der 9.11.1989 zeigt sich in Berlin novembergrau. Ich jogge durch die Müggelberge in Köpenick, hänge einen Besuch dran, höre im Radio von Grenzöffnung, vermute: Wegwollenden wird der Weg verkürzt. Zu Hause falle ich aus allen Wolken. Hanns-Joachim Friedrichs verkündet nach 22:42 Uhr in den „Tagesthemen“: „Die Tore der Mauer stehen weit offen“. Noch melden TV-Teams von der Grenze: Nichts tut sich. Dann tritt ein Vorbeikommender eine Lawine los, berichtet, was er sah: Ostler strömen über die Bösebrücke an der Bornholmer Str. Von mir nach dort sind es zwei Kilometer, ca. 10 Lauf-Minuten.

Rein in die Laufsachen! Pass und Ausweis in den Brustbeutel! Kurz zu Nachbarn: „Ich trainiere im Westen!“ Die winken ab: „Musst erst Rentner werden“. Dann hetze ich durch die menschenleere Kastanien- und Schönhauser Allee. Auffallend viele verlassen am S-Bahnhof eiligst die Kneipen. Einer ruft mir nach: „Der kann es nicht erwarten!“ Ich bemerke nichts Auffälliges in der Bornholmer Str. Erst vorn an der Grenze hängen einige herum, wirken abwesend, reagieren nicht auf mein Hervorgekeuchtes: „Wie läuft das hier ab? Wie komme ich rüber?“ Hier passiert im Moment nichts. Schweißnass will ich in der Novemberkälte nicht herumstehen, mich auch nicht nach Hause trollen. Da, rechts neben mir werden Autos abgefertigt. Ein Blick in den DDR-Ausweis, und der Weg ist frei. Ich eile dorthin, bitte aufgekratzt einen Grenzer: „Können Sie einen Läufer ausnahmsweise als Auto betrachten.“. Der beschwört mich bittend: „Was denken Sie, was hier passiert, wenn ich Sie durchlasse?“. Ich kapiere, andere wollten dann auch. Der Angesprochene resigniert zum Kollegen: „Schabowski hat uns was Schönes eingebrockt!“

Ich frage nun Trabi- und Wartburg-Fahrer, ob sie mich mitnähmen, weise mich aus, erzähle, ich will „drüben“ als Gag ein paar Kilometer laufen. Alle ergehen sich in Ausflüchten, es ist peinlich. Ich fühle mit den ratlosen, alleingelassenen Grenzern. Aber diesen feigen Typen hätte ich am liebsten sonstwohin getreten. Hier bahnt sich eine Sternstunde an, und die krümmen sich in DDR-typi-scher Feigheit. Ich gebe auf, stelle mich neben die Öffnung im ersten Grenzzaun, schaue den ohne mich entschwindenden Autos sehnsüchtig nach.

Im Nu stecke ich in einem Gewirr von Menschen und Autos, erlebe, was vorn geschieht, habe keine Ahnung, wie viele hinter uns warten. Die Grenzer stehen jetzt nebeneinander, versperren die Einfahrt, halten ähnlich Priestern oder Schattenboxern die Wartenden mit abwehrenden Handbewegungen auf Distanz. Mir kommt nicht in den Sinn, ein Schuss könnte fallen. Die Gesichter der jungen Frauen um mich wirken im kalten Neonlicht angespannt, ernst. Eine fürchtet, man könnte uns an den Zaun quetschen. Ich zeige auf die Autos hinter uns, die den Druck abfangen. Jugendliche skandieren: „Macht das Tor auf!“, „Wir kommen wieder!“ Einige nölen: „Warum lasst ihr uns hier warten. Es wird eh aufgemacht“, „Was soll der Sch…? Laßt uns endlich durch!“ Die Grenzer zaudern vermutlich so lange, bis die Menge bedrohlich angeschwollen ist, um eine Kapitulation zu rechtfertigen. Sie werden – wie ich mich erinnere - weder angerempelt noch beschimpft. Was ich erlebe, wirkt unspektakulär, eher unwirklich, als wäre man im falschen Film. Zehn Jahre danach zeigt „Spiegel-TV“ Aufnahmen von der Grenzöffnung, von einer hinter den Grenzern postierten Kamera. Den in der DDR-offiziell verhassten „Spiegel“ ließ man eher ins „Grenzgebiet“ als uns unbescholtene „DDR-Bürger“. Das Warum würde mich interessieren.

Gegen 23:30 Uhr treten die Grenzer wie auf Kommando ab, drehen die Sperren zur Seite. Der Weg ist frei. Ich bin baff, vielleicht gerührt. Hinter dieser Öffnung liegt, wovon ich bislang träumte: das Matterhorn, Rom, Paris, Wien, die für uns bislang verriegelte Welt. Nach einer freudigen Schrecksekunde stürmt die Meute mit einem Schrei los. Ich hake mich kurz mit einem Uniformierten vor etwas Kantigem unter. Keiner soll sich verletzen! Dann sause ich los, umkurve Hindernisse, spurte über die Brücke, über den Grenzstrich. Dahinter wartet – mit respektablem Abstand – eine applaudierende Menge. Sie lässt eine schmale Gasse für uns offen. Vor ihr schwenkt einer wie von Sinnen die Deutschlandfahne. Ich frage eine Hübsche, wo ich joggen kann. Sie lacht, zeigt etwas ratlos geradeaus.

Von Ostlern wimmelt es hier. Es sind jene, die man vor uns durchließ, weil sie Radau machten. Eigentlich wollte man die aussperren. Daher überstempelte man ihr Passbild. Von denen berichtete der Unbekannte dem TV-Team, der den Run zur Bornholmer auslöste. Ich trabe dahin auf dem Bürgersteig der Osloer Straße, dann der Seestraße, bin aufgewühlt, irritiert, ahne: das lässt sich nicht zurückdrehen. Ich frage mich: Was kommt auf uns zu? Ost und West passen nicht. Die Menschen ticken anders. Die DDR wirkt schä-big, der Westen wie auf Hochglanz poliert. Aber dort versteinern die Mienen, wenn es um Geld und Besitz geht. Wer im Osten ein Haus besaß, war damit eher bestraft. Man ließ mich 1987 nach Süddeutschland fahren. Dort begriff ich: die DDR hat keine Zukunft, ist das Vorgestern.

Was wir soeben erlebten, geht über die Sender. Daraufhin brechen überall Ostberliner auf und stürmten die Grenz-Übergänge. Zwanzig Jahre später wird bekannt: Seit 20.30 Uhr ist die zum DDR-Flughafen Schönefeld führende Waltersdorfer Chaussee auf. Der Verantwortliche hatte Schabowskis „Sofort“ unverzüglich ausgeführt.

Am Volkspark Rehberge drehe ich um. Bald stecke ich im dicksten Gewühl. Ostler strömen en gros herüber, immer mehr Westler trauen sich hinüber. Meine Adidas-Jacke lässt auf einen Westler und somit auf Ortskenntnis schließen. Ich werde pausenlos gefragt und wiederhole: „Bin auch von drüben, kenne mich nicht aus“. Man will mit mir anstoßen, mich in Kneipen locken. Ich bedaure, zeige auf die schweißnasse Stirn. Einige schreien „Wahnsinn“, andere singen oder lallen „So ein Tag, so schön wie heute“. Auf der Brücke wird unter Jubel ein Kinderwagen von Hand zu Hand über die Köpfe gen Westen gereicht. Ich befinde mich inmitten von vor Freude fast durchdrehender Menschen, in einem Volksfest, wie es Berlin vielleicht noch nie erlebte. Wer dabei war, wird es nie vergessen.
Auf der Ostseite der Böse-Brücke greift mich ein TV-Team, weil ich in Laufbekleidung daherkomme. Es erfährt: Ich steuere den nächsten  Berlin-Marathon und 100-km-Lauf in Biel an.

Mehr als ein halbes Jahr danach erlebe ich eher zufällig das definitive Ende vom DDR-Grenzregime, am 30. Juni vor Lübeck. DDR-Grenzer packen zusammen, ziehen mit hängenden Köpfen ab. Es berührt mich doch. Die DDR war ein Absurdistan. Aber ihr Aberwitz war uns vertraut. Wer sie nicht erlebte, wird sie nicht verstehen. Selbst mir, einem Historiker, der dazu 40 Jahre Zeit hatte, ist vieles schleierhaft.

Übrigens glaube ich nicht, die Öffnung der Grenze lasse sich auf Missverständnisse und Fehlleisten reduzieren. Sie ist nur aus dem damaligen Geschehen zu verstehen. Die DDR wurde im November mit wachsender Rasanz umgekrempelt. Panik erfasste die Protagonisten und Nutznießer des SED-Regimes. Die fürchteten das soziale Aus, die Rache jener, denen sie übel mitspielten. Sie zogen vermutlich die Notbremse, öffneten die Grenze. Was passiert, war absehbar: die Ostdeutschen vergessen ihre Revolution, flanieren durch die westliche Glit-zerwelt. Die Bedrängten gewinnen Zeit, verwischen Spuren ihrer Missetaten, vernichten Akten, bringen ihr Scherflein ins Trockene. Sie fürchteten mehr die Wut der eigenen Leute als den „Klassenfeind“. Es hat geklappt! Das schwante mir in der  turbulenten Novembernacht vor 20 Jahren.

Manfred Püschner

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