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Läpple 8

© ZDF

Glanzstunden: Mittendrin beim Mauerfall als ZDF-Korrespondent

Glanzstunden zwischen Kreuzberg und Brandenburger Tor erlebte Christhard Läpple am 9. November. Der heutige Vize-Chef des ZDF-Kulturmagazins Aspekte war mit einem Fernsehteam unterwegs und interviewte die ersten Ost-Berliner, die in den Westteil kamen. Für unsere Zeitzeugen-Seite "Mein Jahr 89" hat der damalige Berlin-Korrespondent des ZDF die aufregendste Nacht seines Lebens protokolliert.

Eine kühle Nacht. Es nieselt. Die rote MZ knattert kurz vor 23 Uhr verloren durch Kreuzberg. Der Fahrer trägt einen roten Helm, eine schwarze Lederjacke und weiße Socken, auf dem Sozius seine Freundin. Auch sie trägt Helm, Lederjacke, jedoch lila Socken. Kein Zweifel. Die Allerersten sind da. An der Ecke Großbeerenstraße halten wir das Pärchen mit dem Ost-Berliner Kennzeichen IS 47-39 an. Daniel und Carola sind überrascht, als ich sie anspreche: „Willkommen im Westen!“ Sie wirken verdutzt, kein Wunder: wenige Minuten in der Neuen Welt und schon hält ihnen ein Fernsehteam das Mikrofon vor die Nase. Daniel, der Lehrling, sammelt sich und erzählt: „Wir sind einfach so durchgekommen. Grenzübergang Heinrich-Heine-Straße. Unglaublich! Es ist übermäßig voll, total erdrückend, kannste nicht vergleichen mit Ost-Berlin.“ Carola, seine Freundin, geht noch zur Schule. Sie zeigt ihren DDR-Ausweis. Auf dem Passfoto ein frischer Stempel. Damit sollte ihre Wiedereinreise verhindert werden, erfährt sie später. Die Beiden haben sich spontan aufgemacht, „zur Grenze“, um zu testen, ob es stimmt, was Schabowski im Fernsehen verkündet hatte. Daniel: „Die Maueröffnung ist das Beste, was sie in den letzten vierzig Jahren gemacht haben.“ Carola nickt, lächelt und träumt: „Wer weiß, vielleicht kann ich jetzt meine Brieffreundin in Australien besuchen.“

"Das ist Geschichte, Geschichte live"

Eine halbe Stunde später am Brandenburger Tor. An der Westseite, auf der abgesperrten Straße des 17. Juni stehen Mannschaftswagen der Polizei. Die Sackgasse ist eine einzige nervöse Zone. Immer mehr Menschen nähern sich der Mauer, die in einem mächtigen Halbkreis den Zugang zum Tor versperrt. Ein Schild erklärt die Welt: „Achtung! Sie verlassen den amerikanischen Sektor!“ Ein Witzbold hatte einmal an den Rand gesprüht: „Wie denn?“ Über der Mauerkrone liegen Feuerwehrschläuche. Noch kurz zuvor hatten Grenzer Mauerspringer von der „Staatsgrenze West“ gespritzt. Plötzlich stürmen erst einige wenige, dann dutzende Menschen die breite Außenmauer und skandieren "Die Mauer ist weg". West-Berliner Polizisten versuchen die Erstürmung zu verhindern. Sie halten einige Kletterer an den Beinen fest, doch es sind zu viele. Der Einsatzleiter brüllt in unser Mikrofon: "Das ist Geschichte, Geschichte live. Es ist unfassbar auch für uns, dass uns die Ereignisse so schnell überrollt haben"“ Längst hat sich die Szenerie in eine bizarre Kinokulisse verwandelt. Jubelschreie sind zu hören. Auf der Mauer tanzen Hunderte Menschen. Neben uns murmelt eine Frau: „Wahnsinn.“

Es ist ein wahres Volksfest auf der zwei Meter hohen und breiten Außenmauer. Die gefürchteten Grenztruppen sind spurlos verschwunden. Menschen klopfen mit Gegenständen auf die Mauer. Es ist die Geburtsstunde der Mauerspechte. Eine Frau im schwarzen Mantel bearbeitet mit einem Hammer energisch die Mauerkrone. Eine Bezirks-Abgeordnete der SPD aus Charlottenburg sagt: „Wir haben die Sitzung unterbrochen. Unsere Themen kamen uns nur noch trivial vor. Erst gab es Jubel, dann ein Glas Wein. Dann sind wir hierher gefahren, um zu sehen, ob das stimmt.“ Ein Ehepaar, Mitte vierzig, steht etwas abseits. Die Frau beginnt zu reden: „Wir können es gar nicht glauben. Wir sind tief bewegt. Wir sind extra aus dem Bett aufgestanden, um zu sehen, was hier los ist. Unser Sohn hat aus Amerika angerufen. Auch er nimmt großen Anteil.“ Ihr Mann ergänzt: "Ich habe erlebt, wie die Mauer gebaut worden ist und will sehen, wie sie wieder abkommt.“ Dem West-Berliner kommen die Tränen als er das sagt. Es wirkt weder aufgesetzt noch peinlich.

„Wir wollen einen Bummel über den Kudamm machen.“

Immer mehr Ost-Berliner m

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Christhard Läpple war 1989 ZDF-Korrespondent in der DDR. Heute ist er Vize-Chef des Magazins "Aspekte".

© Andreas Schoelzel

ischen sich unter die Mauerstürmer. Ein Vater mit erwachsenem Sohn trägt nicht nur einen blauen Kunstpullover aus volkseigener Produktion, sondern Glanz in seinen Augen: "Wir haben es um 22 Uhr im Radio gehört. Dann sind wir gleich ins Auto rein und los an die Grenze. Eine Stunde haben wir am Übergang Stolpe gewartet. Die Grenzer waren unschlüssig, dann haben sie uns durchgelassen. Unfassbar.“ Er lächelt ein Lächeln, das uns noch häufig in dieser Nacht begegnen wird. Dann fährt er fort: „Es steht uns in der DDR allen bis ganz oben, aber eine Wiedervereinigung wollen wohl die meisten nicht so richtig haben.“ Seine Ehefrau im blauen Anorak und frischer Frisur pflichtet ihm bei: „Wir wollen unsere Arbeit machen. Wir wollen ein bisschen verreisen. Wir wollen leben wie jeder andere Mensch auch.“ Ich frage, was sie sich für West-Berlin vorgenommen haben? Der Mann antwortet wie aus der Pistole geschossen: „Wir wollen einen Bummel über den Kudamm machen.“ Seine Ehefrau ergänzt: „Dann fahren wir wieder nach Hause.“ Der Mann grinst: „Morgen ist Frühschicht. Um 5 Uhr 30 muss ich an meinem Schreibtisch sitzen.“ Er schaut auf die Uhr. „Ach, das ist ja heute. In gut viereinhalb Stunden.“ Er lacht zufrieden und glücklich. Wie ein Kind. Einmal Kurfürstendamm und zurück! Diesen Wunsch hören wir in dieser Nacht noch viele Male. Die Glitzermeile ist der Wallfahrtsort der ersten Stunde. Erst dort können und wollen die DDR-Bürger begreifen, dass sie keineswegs träumen, dass diese Augenblicke keine Illusion, sondern Wirklichkeit sind.

Der Andrang am Brandenburger Tor wird immer größer. Wo wir mit unserer Kamera auftauchen, sind wir sofort umlagert. Die Menschen reden, ohne dazu aufgefordert werden zu müssen. Ein DDR-Bürger mit Hornbrille, Anfang fünfzig, sagt: „Auf den Demonstrationen hat keiner die Wiedervereinigung gefordert. Das ist ein Zeichen, dass das Volk die Wiedervereinigung nicht will.“ Was sollte jetzt passieren, frage ich nach. „Die Versorgungslage muss sich dringend verbessern. Die Wirtschaft. Wir bekommen zwar das Notwendigste, es braucht keiner hungern, aber wir haben keine Videorekorder. Die kosten 7000 bis 8000 Mark. Das können sich nur Leute mit Privilegien leisten, keine normalen Bürger.“ Hat er Vertrauen in die neue Regierung unter Egon Krenz? – „Nein, wir bleiben skeptisch. Alle Zugeständnisse sind vom Volk erzwungen worden.“ Ein Mann mit Schnauzer geht dazwischen: „Die SED hat nichts dazu gegeben. In zwei Jahren haben wir die Wiedervereinigung. Oder sogar noch früher.Ein junger Ost-Berliner Student mit Baskenmütze widerspricht: "Die Deutsche Einheit wird es nicht geben. Die Menschen wollen nicht den Kapitalismus, sie wollen Freizügigkeit. Wir wollen bei uns eine ökologische Gesellschaft aufbauen, die besser ist als die im Westen. Der Flüchtlingsstrom wird in die andere Richtung kommen. Warten wir's ab, ein zwei Jahre.“

Grenztruppen mit geschulterten MPis

Jetzt passieren Menschenströme das Brandenburger Tor in beide Richtungen. Die Grenztruppen stehen mit geschulterten Kalaschnikows am Rande. Sie warten ab. Werden sie eingreifen? Es herrscht eine unwirkliche, fröhliche und friedfertige Stimmung. Ab und zu wird gepfiffen, gejohlt oder irgendein Namen gerufen. Den Sound liefern zahllose Mauerspechte, die mit kleinen und großen Schlagwerkzeugen das Mauerstück bearbeiten. Ab und zu beleuchten Blitzlichter der Fotografen das Geschehen. Die Soldaten sichern den Todesstreifen in Richtung Reichstag ab. Hier kommt keiner durch. Eine Frau singt: „Reißt die Mauer ein. Reißt sie endlich ein, sie hat ja lange genug herumgestanden…“ Die meisten Mauerstürmer sind jung, höchstens zwanzig, dreißig Jahre alt. Wunderkerzen werden angezündet. Wer aus Ost oder West kommt, ist völlig nebensächlich. Die Frage der Herkunft verspielt sich in einem Rausch der Glückseligkeit. Das Brandenburger Tor gehört nun allen, ist keine Todeszone mehr. Der Boulevard Unter den Linden in der Ferne leuchtet. Auf der Quadriga weht Schwarz-Rot-Gold im Novemberwind, mit Hammer, Zirkel und Ährenkranz. Das Niemandsland ist volkseigen und das Mauerklettern ein grenzüberschreitender Massensport geworden.

Plötzlich erfüllt ohrenbetäubender Lärm das Gelände. Es pfeift, kratzt und jault aus einem Lautsprecher: "Achtung, Achtung. Hier sprechen die Grenztruppen der DDR. Bürger der Hauptstadt Berlins. Wir bitten Sie umgehend höflichst den Pariser Platz sofort zu verlassen.“ Dann wird der Ton noch einen Zahn militärischer: „Bürger West-Berlins! Verlassen Sie umgehend die Mauer!“ Der Grenzer hat unüberhörbar „Mauer“ gesagt. Bislang ein Unwort im offiziellen DDR-Sprachgebrauch. Viele folgen reflexartig der Aufforderung und klettern in Richtung Westen. Die Menge auf der Mauer pfeift und ruft: "Warum?“ Die Lautsprecherstimme krächzt: „Ich fordere Sie auf: Verlassen Sie sofort den Pariser Platz!“ Es sind bange Sekunden der Unsicherheit. Was wird passieren? Werden die Uhren zurückgedreht? Wird gar geschossen? Der Platz vor dem Tor leert sich. Einige Menschen singen "We shall overcome". Die Luft ist zum Schneiden gespannt. Plötzlich taucht vom Brandenburger Tor her ein Fahrradfahrer auf. Friedlich radelt er über das Gelände. Ein Mann springt von der Mauer auf den geräumten Platz. Er ruft mit kräftiger Stimme: „Kommt runter! Kommt runter! Wir müssen mehr werden.“ Die Menge antwortet rhythmisch: „Runter, runter!“ Einige folgen tatsächlich.

"Die Mauer muss weg!"

Der Platz füllt sich wieder. In diesem Moment betritt ein Grenzoffizier die Kulisse. Er läuft vor dem Brandenburger Tor hin und her, wirkt orientierungslos. Er spannt den Körper , gestikuliert, gibt Anweisungen.. Niemand nimmt ihn wirklich ernst. Er schaut auf seine Uhr. Die Menge johlt, pfeift und skandiert: „Die Mauer muss weg!“ Der Offizier wird von einer kleinen Gruppe Schaulustiger verfolgt, im sicheren Abstand. Dann wirft der Grenzer seine Arme resignierend nach unten und zieht in Richtung Osten ab. Er verschwindet im Dunkeln. Kurz darauf kehrt der Uniformierte zurück Er bemüht sich um Haltung, will Autorität verkörpern und stolziert wie ein Operettengeneral über den Pariser Platz. Wieder und wieder macht er Handzeichen, schreitet durch den Raum und wirkt doch wie ein überforderter Verkehrspolizist, der nach einem Ampelausfall Ordnung ins Chaos bringen soll. Manche folgen seinen Anweisungen, andere nicht.

Es ist zwei Uhr früh an diesem 10. November 1989. Wir stehen dicht umringt auf der Mauerkrone, exakt auf der Schnittkante zweier Systeme. Unsere Kamera zieht die Menschen magisch an. Sie wollen reden, sich erleichtern. Es ist eine Art Volksaussprache, als wäre ein riesiges Ventil geöffnet worden. Zwei FDJ -Studenten stehen etwas verloren in der aufgekratzten Menge. Der Blassere sagt: „Sicher ist Reisefreiheit für einige ein großes Thema. Für mich ist es nicht so sehr, weil mich der Alltag der DDR mehr interessiert als alles andere.“ Ist die Vereinigung ein Thema, frage ich den jungen Mann von der Humboldt-Universität. „Ich persönlich bin gegen die Vereinigung, weil ich der Meinung bin, dass es nützlich wäre, dass in verschiedenen deutschen Staaten verschiedene Wege beschritten werden, um zu einer richtigen Gesellschaftsordnung zu gelangen.“ Sein Kommilitone unterstützt ihn. Auch er spricht auffällig leiser als alle anderen in dieser Nacht: „Für mich steht das Thema derzeit nicht. Wir können momentan nicht von Wiedervereinigung reden.“

Diskussion über Krenz

Ein Mann mit einem mächtigen Schnauzbart mischt sich ein: „Es muss auf jeden Fall bleiben, dass man hin-und hergehen kann. Das ist das Wichtigste, dass wir nicht wieder eingesperrt werden wie all die ganzen Jahre.“ Ob er Vertrauen in die Regierung habe, will ich wissen. „Wenn überhaupt in Modrow. Von den SED-Politikern könnte ich mir keinen vorstellen, weder Schabowski noch Krenz.“ Der FDJ-Student erwidert: „Egon Krenz hat eine ganz vernünftige Meinung und für den Staat einiges bewegt, zum Beispiel, dass er gegen ein neues China in unserem Lande eingetreten ist.“ Der Mann mit dem Schnauzer, der sich als selbständiger Handwerker vorstellt, ist bass erstaunt: „Aber vorher hat Krenz ganz anders geredet und er hat auch anders gehandelt und das muss dabei berücksichtigt werden. Die Leute müssen zur Verantwortung gezogen werden, für das, was sie getan haben. Es kann nicht sein, dass sie sich jetzt still und heimlich verdrücken.“ Der zweite Student mit Brille meldet sich zu Wort: „Aber woher soll man denn die ganzen Leute hernehmen, die ein Land führen können, will man sie aus dem Nichts stampfen?“ Der Handwerker mit Schnauzer: „Aber mit Leuten, die vierzig Jahre Misswirtschaft geführt haben, kann man kein Land aufbauen.“ Der Student hält fast flüsternd dagegen: „Aber man sollte ihnen eine Chance geben.“ Gemurmel. Unruhe. Von hinten brüllt jemand: „Wer hätte das noch vor vier Wochen gedacht? Vor Gorbatschow ziehe ich den Hut. Und vor den Ungarn!“ Der Handwerker pflichtet ihm bei: „Ich ziehe auch vor denen den Hut, die unser Land verlassen haben.“

Die beiden Studenten stehen wie versteinert in der Menge. Sie ziehen den Kopf ein, senken den Blick, würden am liebsten in der Mauer unter ihren Füßen versinken. „Wir hatten die Schnauze voll!“ ruft eine Stimme aus dem Hintergrund. „Der entscheidende Tag war der 9. Oktober“, ergänzt ein jüngerer Mann in sächselndem Singsang. Der Handwerker mit dem Schnauzer übernimmt wieder das Wort: „Obwohl wir mit den Sachsen nicht können, vor den Leipzigern muss man den Hut ziehen.“ Es folgt eine längere Debatte auf der Mauerkrone über die „Scheiß Sachsen“ und die „Scheiß Berliner“. Ein zählbares Ergebnis kommt nicht zustande. Die Studenten sind spurlos verschwunden. Der Handwerker doziert mit lauter Stimme: „Es muss sich etwas grundlegend ändern. Es nützt nichts, wenn wir jetzt hin und herfahren können. Ich muss mit meinem Geld etwas anfangen können. Das ist das Entscheidende!“ Welche Erwartungen er an den Westen habe, frage ich. „Ich würde es falsch finden, ständig vom Westen nur Geld zu kriegen, das am Ende irgendwo versickert. Es müssen am Ende wirklich konkrete Sachen herauskommen, ansonsten ist es zwecklos.“ Der Sachse nickt heftig: „Bisher sind die Gelder aus dem Westen uns nicht zugute gekommen.“

Hohn und Spott für den Grenzoffizier

Der Pariser Platz zwischen Brandenburger Tor und Mauer leert sich. Er ist nahezu geräumt. Der Offizier patrouilliert in aufrechter Haltung, zieht den Kopf instinktiv gegen Hohn und Spott ein, der auf ihn herunter prasselt. Das Beeindruckendste an dieser Nacht ist die Abwesenheit von Aggressivität und Hass. Es bleibt gelassen, fast heiter, wie bei einem Rockfestival mit freiem Eintritt und den besten Bands der Welt. Die Lage scheint sich gegen drei Uhr morgens „normalisiert“ zu haben. Das Tor ist zu, es gehört wieder den Grenzern. Es gelingt uns im letzten Moment, zwischen den aufmarschierten Grenztruppen zur Ostseite des Tores zu gelangen. Aus dem Megaphon ertönt die vertraute blecherne Befehlsstimme: „Zu ihrer eigenen Sicherheit, verlassen Sie den Pariser Platz!“ Eine Postenkette schiebt die letzten Passanten vom Tor weg in Richtung Unter den Linden.

Es ist halb vier Uhr morgens. Grenzübergang Invalidenstraße. Noch immer strömen die Menschen in beide Richtungen, fluten an Sperranlagen, Kontrollhäuschen und Absperrbaken vorbei. Land unter im Sperrgebiet! An der letzten Schranke regeln West-Berliner Polizisten und Ost-Berliner Grenzer den Verkehr – gemeinsam. Das Knattern der Trabis liegt in der Luft, eine Symphonie im Zweitaktrhythmus. Überall wird gehupt, gelacht, gefeiert. Ein Taxifahrer bleibt im Gewühl stecken. Er kehrt von seiner ersten Fahrt nach West-Berlin zurück. Der Ost-Berliner hat eine kräftige Kutscherstimme und glänzende Augen: „Unfassbar! Das konnten wir uns einfach nicht vorstellen, obwohl ich immer daran geglaubt habe.“ Jetzt lächelt er ungläubig ein Kinderlächeln. Irgendjemand klopft ihm auf die Schulter. „Ich nehme jetzt wieder Fahrgäste zurück in den Osten. Ich bin der Meinung, jeder sollte da bleiben, wo er her ist. Wir können jetzt bei uns was verändern. Ohne große Phrasen dreschen zu wollen, will ich den Leuten sagen: Bleibt da, wo ihr her seid und helft mit, dass es besser wird. Dann wird es besser.“ Wir stehen mitten im Abfertigungsbereich. Absolute Tabuzone für westliche Journalisten. Die Grenzer tun so, als würden sie uns nicht sehen. Vor wenigen Stunden noch wären wir hier sofort festgenommen worden. Ein Grenzsoldat: "Das machen wir immer so. Wir kontrollieren die Personalien, mehr nicht. Ich habe soeben einen Bürger West-Berlins kontrolliert. Er hatte einen behelfsmäßigen Personalausweis ohne die entsprechenden Dokumente. Also habe ich ihn zurückgeschickt. So sind die Modalitäten, die werden eingehalten.“ Der Grenzer versucht sichtlich Fassung zu wahren. Er will sein Gesicht nicht verlieren. Nicht jetzt im Moment der größten Niederlage. Nicht im Angesicht des Klassenfeindes. Wir schauen uns in die Augen. Wir wissen: Bis vor wenigen Minuten war der Offizier am Grenzübergang ein kleiner Gott. Der uneingeschränkte Herr über Einreise oder Zurückweisung, über ein freundliches Lächeln oder totale Schikane. Ich frage ihn, ob sich sein Job nun ändern werde. „Das glaube ich kaum. Passkontrolle bleibt Passkontrolle".

Menschenmassen auf dem Kurfürstendamm

Fünf Uhr früh am Kurfürstendamm. Der Wallfahrtsort der DDR-Bürger ist überfüllt. Menschenmassen schieben sich über den Boulevard. Selbst die West-Berliner Busfahrer sind freundlich und bestätigen, dass für DDR-Bürger der Nulltarif gilt: „Man muss als Ostler nur seinen Ausweis zeigen. Das reicht schon.“ Ausnahmezustand in West-Berlin. Der Bus der Linie 19 zum Grunewald wird gestürmt. An den Schaufensterscheiben dichte Menschentrauben. Ein älterer Mann mit Prinz-Heinrich-Mütze und Bart ringt um Worte. Er ist zu Tränen gerührt: „Es ist überwältigend. Man kann es gar nicht verkraften, nach so vielen Jahren. Da muss man erst mal darüber schlafen. Das hat wie eine Bombe eingeschlagen.“ Wieder entdecke ich diesen Glanz in den Augen. Als wäre sein Wunschtraum soeben in Erfüllung gegangen. Der Westen als Paradies, als Erfüllung aller Heilsversprechen. Seine Ehefrau meint trocken: „Man ist überwältigt, aber ich habe mir die Schaufenster genau angeschaut. Es ist doch ganz schön teuer. Da kommt ein wenig Traurigkeit auf, dass man sich das wahrscheinlich nicht leisten kann.“ Unter den DDR-Bürgern entwickelt sich eine lebhafte Debatte über das Thema West-Geld.

Ein junger Mann mit Schal fordert: „Da muss die Regierung etwas tun. Die müssen das lösen. Vielleicht ist es möglich, dass wir im Westen etwas verdienen können und die Westler bei uns. Dann wird unsere Mark aufgewertet. So eine Art Austausch wäre nicht schlecht.“ Ein Mann mit langen Haaren und Jeansjacke sagt, er wisse, wo man die Devisen beschaffen könne: „Das Geld kann man sich von den 130.000 Stasi-Leute in Ost-Berlin holen. Die kaufen in ihren eigenen Läden 1:1 ein.“ Ein Mittdreißiger trägt einen Button mit Gorbatschow am Revers: „Das hätte ich mir nie träumen lassen. Ich habe vor knapp elf Jahren selbst an der Grenze gedient und bin jetzt hier. Unvorstellbar. Ich habe echt geheult!“ Ich frage ihn, was er sich von der Zukunft verspricht. „Ich habe in einem Schaufenster gesehen, dass man für 100 Mark Ost nur 12,50 D-Mark West bekommt. Das ist für viele sehr hart. Wie soll man sich das leisten? Ich kenne viele bei uns in der Landwirtschaft, die sehr wenig verdienen. Die knüppeln zehn bis zwölf Stunden am Tag und haben am Ende des Monats sechshundert Mark raus. Da muss man etwas tun.“


Wo ist der Glanz geblieben?

Kurz vor sechs Uhr ist unser letztes Band bespielt. Wir brechen die Dreharbeiten ab, erschöpft, aber glücklich. Noch nie hatten uns wildfremde Menschen so freundlich und fröhlich in die Augen geschaut. Noch nie hatte ich soviel Hoffnung und Ausgelassenheit erlebt. Berlin war in dieser Nacht wie verwandelt. Die geteilte Stadt erinnerte an ein Märchen aus Tausend und einer Nacht. Zurück im Fernsehstudio stellen wir das Material zusammen, das in den Nachrichten weltweit verbreitet wird. Die Bilder vom Brandenburger Tor laufen rund um den Globus. In diesen Tagen werden sie wieder aus den Archiven geholt. Was aus Daniel und Carola geworden ist, wollen Sie wissen? Die ersten und einzigen Ost-Berliner in jener Nacht, deren Namen wir noch kennen. Sie haben nach der Wende neue Freiheiten gewonnen und alte Sicherheiten verloren. Das junge Paar hat noch eine Weile zusammengelebt, dann sich getrennt. Jeder ging seine eigenen Wege, steinig, mit Umwegen, das volle Programm eben: Jobverlust, Neuanfang, Rückschläge. Jetzt, so fürchten Sie, beginnt wieder das Jammern, dieser vertraute deutsche Grundton der letzten zwanzig Jahre. Merkwürdig. Am Ende bleibt ein Rätsel. Selbst in den größten Glücksmomenten neigen wir zum Grübeln. Wo der Glanz dieser Nacht wohl geblieben ist? 

Christhard Läpple

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